Überall ist Wunderland
Mit den Augen eines Kindes
Als Kind bekam ich ein Buch in die Hand, das den Titel hatte: „Überall ist Wunderland“. Es war die erste Verszeile eines Gedichts von Joachim Ringelnatz:
Überall ist Wunderland.
Überall ist Leben.
Bei meiner Tante im Strumpfband
Wie irgendwo daneben.
Überall ist Dunkelheit.
Kinder werden Väter.
Fünf Minuten später
Stirbt sich was für einige Zeit.
Überall ist Ewigkeit.
Wenn du einen Schneck behauchst,
Schrumpft er ins Gehäuse.
Wenn du ihn in Kognak tauchst,
Sieht er weiße Mäuse.
Das Großartige bei Ringelnatz ist, dass er in einem Atemzug tiefe Gedanken mit skurrilen und witzigen äußern kann. Der Lyriker, Erzähler und Maler Hans Bötticher (1883 - 1934), der sich mit Künstlernamen „Joachim Ringelnatz“ nannte, lernte wie wenige seiner Zeitgenossen Spott, Entbehrungen und Diffamierungen kennen. Es war sein Humor, der ihn immer wieder aufrichtete und leben ließ.
Ich habe mir immer wieder vorgestellt, die Verszeile „Überall ist Wunderland“ wörtlich zu nehmen. Ähnlich wie die Romantiker weiß Ringelnatz, dass nicht die mühsame Suche nach seltenen und exotischen Dingen – die Suche nach der blauen Blume, wie sie im Romanfragment„Heinrich von Offerdingen“ von Novalis vorkommt ‑ entscheidend ist, sondern die Fähigkeit, im Alltäglichen das Besondere zu entdecken.
Der Wunsch nach dem Übernatürlichen
Nichts erscheint so faszinierend wie das Hereinbrechen der transzendenten Welt in unsere Alltagswelt, faszinierend, aber gleichzeitig auch befremdlich. Biblische Wunderberichte wirken auf uns wie Produkte naiver Kinderwünsche, in denen alles möglich ist. Der Schwache kann sich plötzlich gegenüber seinen Gegnern mit Bärenkräften durchsetzen, der Blinde kann auf einmal sehen und der Lahme gehen. Was nach allen Regeln des Verstandes nicht geht, ist auf einmal möglich. Werden naive Träume wahr oder sollen sie nur über das Harte der unerträglich scheinenden Wirklichkeit hinwegtäuschen? Wenn das Wunschdenken den Blick für die harte Realität verzerrt, die sich so gar nicht nach unseren Wünschen richtet, wird ein Mensch lebens- und handlungsunfähig. Bewusst oder unbewusst, er verlässt sich darauf: Die himmlische Macht wird es schon richten. Wenn freilich dieser Traum wie eine Seifenblase zerplatzt, dann ist der Katzenjammer groß. Gott wird verflucht und die Heiligen werden beschimpft, wie dies in der Geschichte gar nicht so selten der Fall war. Als sich der Galiläer Jesus von Nazareth der Wundersucht seiner ZeitgenossInnen entzog, verloren viele das Interesse an ihm. Oder schlimmer noch: sie befürworteten seinen Tod.
„Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind“
Goethe hat in einer genialen Formulierung im Monolog seines „Faust“ den Zusammenhang zwischen dem Glauben und dem Wunder hergestellt. Faust ringt um den Glauben. Doch er hält sich nicht an Wunder, sondern an Tatsachen. Im zweiten Teil des „Faust“ wird sein immer größerer, ins Wahnwitzige gesteigerter Drang deutlich, als Tatmensch die Welt in den Griff zu bekommen. Doch er scheitert. Sein Hochmut lässt ihn scheitern. Goethe entwirft gleichzeitig in einer apokalyptischen Vision für seine Zeit eine Warnung, sich nur auf das vom Menschen Machbare zu verlassen. Für Goethe ist die unberührte „Natur“ das Wunderbare. Sie ist ihm Offenbarung und Verheißung. Der Hinweis auf den Zusammenhang von Glauben und Wunder bleibt ambivalent. Einerseits kann sich der Weg dahin wenden, auf eigenes Denken und Handeln zu verzichten und sich ganz den übernatürlichen Mächten zu überlassen, andererseits kann der Glaube die Augen für das Besondere und Wunderbare öffnen.
Dass Wissen und Glauben nicht in einem unversöhnlichen Gegensatz stehen, sondern einander bedingen, setzt eine Einsicht in Grundlegendes voraus, dass nämlich alles menschliche Wissen sehr brüchig, fragwürdig und relativ ist, und dass andererseits der Glaube neue Horizonte des Wissens eröffnet. Wenn ein Kind die Welt entdeckt, so vermischen sich in seiner Wahrnehmung Tatsächliches und Produkte seiner Fantasie, denn „überall ist Wunderland“. Doch es ist zu einfach, diese Sicht eines Kindes einfach abzutun, denn dem Wunsch und der Fantasie wohnt etwas ungemein Visionäres inne: sich Neues und Unbekanntes vorzustellen und dann auch zu entdecken. Die Natur antwortet nur auf Fragen, die der Mensch auch stellt und er braucht genügend Fantasie, neue Fragen stellen zu können.
Im Alltag, der gar nicht überraschend und geheimnisvoll, sondern trübe, langweilig und seltsam eindimensional erscheint, Neues und Unbekanntes zu entdecken, setzt einen Blick voraus, der für dieses Neue offen ist. Dann ist das Wunder nicht das Hereinbrechen einer übernatürlichen Welt (obwohl es auch solche Erfahrungen gibt), sondern die Erschließung des Geheimnisvollen im Alltäglichen. Das Wunder bekundet sich im Staunen-können, dass unsere Welt unendlich viel reicher und erfüllender ist, als wir uns vorstellen können.
Hanjo Sauer