Lasst uns utopieren!
Ich treffe die Schauspielerin, Produzentin und Regisseurin Claudia Seigmann im schönen Café „Friedlieb und Töchter“ in der Linzer Altstadt. Es ist ein sonniger Vormittag. Claudia steckt damals mit dem „theaternyx*“ mitten in der letzten Spielphase des Audiowalks „über.morgen“, einer utopischen Reise durch die Stadt Linz im Jahre 2050 und wirkt dennoch recht entspannt. Wenn Sie neugierig darauf geworden sind, welche Geschichte sich hinter „über.morgen“ verbirgt, welche Visionsbilder und Zukunftshoffnungen Claudia Seigmann begleiten, dann lesen Sie weiter.
„über.morgen“ erzählt die Geschichte vom dystopischen Crash aller bekannten Strukturen hin zur Etablierung poetischer, zärtlicher Bilder und ganz neuer Formen des Zusammenlebens in der Stadt Linz. Ich selbst bin vergangenen Sommer zwei Mal mitspaziert und erzähle Ihnen gerne ein wenig von dieser Erfahrung. Eine Gruppe von Neugierigen marschierte mit Kopfhörern und der angenehmen Stimme von Claudia im Kopf durch die Stadt und bekam Bilder angeboten, die man so noch nicht zu träumen wagte: Eine Kirche voller Schmetterlingen, ein verlassenes Parkhaus mit Hologrammen von Autos als eine Art Mahnmal an die Zeit, als noch fossile Rohstoffe zur Fortbewegung verschwendet werden mussten, oder ein Krankenhaus in dem Apfelbäume blühen, man durch Gärten flaniert, barfuß über Wiesen gehen kann und das Klima zur Gesundheit und Ausgeglichenheit eines jeden Gastes dienlich erscheint. Schritt für Schritt marschieren die Gäste im Einklang durch die Stadt. Der Takt im Ohr lässt kein Straucheln zu. Es ist eine Einladung an alle zu „utopieren“ wie Claudia es formuliert. Ein Plädoyer für die Offenheit von Geschichte.
„Mehr denn je brauchen wir die positive Utopie!“
Wobei das Thema Zukunft für sie lange ein zu heißes Eisen war. „Zukunft ist so schwer zu denken“, betont Claudia. Als dann 2016 ein Auftrag kommt, die Bespielung des Areals im Museumsquartier in Wien zu übernehmen. Für dieses Vorhaben hat sie die Entscheidung getroffen, das Areal in die Zukunft zu versetzen. Es ist der Be ein Performance Parcours im Museumsquartier und Claudia bekommt ein strahlendes Gesicht, sodass man nur mitstrahlen kann und neugierig, gespannt lauschen darf wie sie von dieser „wunderschönen“ und „beglückenden“ Arbeit zu sprechen beginnt. „Ich hatte keine Ahnung was das wird. Es war ein mutiger Schritt ins Nichts“, erinnert sich Claudia an die Anfänge des Projektes. Claudia und ihr Team haben sich auf diesen offenen, künstlerischen Prozess eingelassen. Das gesamte Areal des Museumsquartiers wird zum partizipativen Raum aus Installationen, Gesprächen, Performances und dabei wird „Zukunft“ plötzlich fassbar. Künstler_innen wie jeder einzelne Gast verkörpern die eine Suchbewegung in vielfältigen Ausdrucksformen:
“Wie geht Liebe? Wie lässt sich Gemeinschaft leben? Wie Demokratie denken?”
„Es gab kein Sicherheitsnetz. Es war ein Experiment das zur Selbstermächtigung geführt hat“, resümiert Claudia. Eine Frage, die sie sich von Anbeginn an stellt, und sich vermutlich bei jedem Projekt stellt: „Wie hält man diese Spannung, diese Kraft?“ Jede der Performances kann die Energie halten, indem das Publikum eingeladen war, Teil des Programmes zu sein. So entstehen interaktive Netzwerke aus Akteur_innen, die voneinander lernen, indem sie sich aufeinander einlassen, indem sie berührbar füreinander werden. Aus dieser Erfahrung ward die Idee geboren, das Publikum „noch autonomer, noch freier agieren zu lassen“, bekräftigt Claudia. Dieses Zutrauen an das Publikum sich als Gruppe frei im öffentlichen Raum zu bewegen, war „etwas völlig Originäres.“ Ich kann bestätigen, dass es etwas Neu- und Andersartiges war. Als Teilnehmerin des walks befinde ich mich in einer Gruppe von Menschen, die dieselbe Stimme hören wie ich, und dennoch so ganz andere Bilder vor ihrem geistigen Auge entstehen lassen können. Wie bunt und vielgestaltig die Stadt an diesen Tagen wohl gewesen sein mag. Erfahren werde ich es wohl nicht. Und gerade darin liegt der Reiz der Sache. Es ist ein Spiel aus Verbergen und Entbergen von Visionen. „Eine echte Wahrnehmungsveränderung mit ganz einfachen Mitteln“ sollte inszeniert werden, ausgehend von „einem wertschätzenden Raum, wo man sich ganz gemeint gefühlt“ hin zu einem „realen Dialog mit sich selbst“, resümiert Claudia. Natürlich galt es sich die Frage zu stellen:
„Wo und was und wie will ich erzählen?“
Es ist gelungen, eine in sich stimmige Verbindung zwischen Orten, Menschen, Zeiten und Räume herzustellen, aus der sich die jeweilige Geschichte herauswindet. „Die Route ergab sich von selbst. Es sollte eine Straßenbahnfahrt vorkommen, das Thema Mobilität in einem Parkhaus rund um das OK zu inszenieren war eine gute Gelegenheit und dann noch der schöne, leere und offene Kirchenraum der Herz Jesu Kirche in Linz.“ In diesem Moment wird es still in mir, ein die Herz Jesu Kirche bevölkernder Schmetterlingsschwarm zieht gerade vor meinem geistigen Auge vorbei und erkundet die Nischen, Höhen und Tiefen in mir. Ich bin erstaunt über die Wirkmächtigkeit der eigenen Imaginationskraft. Meine Bilder führen mich hin zu einer Erinnerung an eine Installation von Gerda Steininger und Jörg Lenzlinger mit dem Titel „falling garden“.
Kirchenräume voller Blumenranken, Verästelungen, Kreuzungen und Querungen von Naturmaterialien, die Betrachter_innen finden sich inmitten eines lebendigen Organismus wieder. Welche Freude hätten sie wohl mit dem hellen, offenen Raum der Herz Jesu Kirche. Meine persönlichen Utopien stellen sich der Frage nach der Bedeutung von Transzendenz im Jahre 2050.
Claudias Vision war es, nicht die eine Geschichte zu erzählen, sondern Menschen einzuladen, „ihre eigene Geschichte zu erzählen und eigene Visionsarbeit zu leisten“, so die Regisseurin und nimmt weiter Bezug auf die gegenwärtige Medienlandschaft und ihre meinungsbildende Verantwortung gegenüber ihrer Leser_innenschaft. „Die positiven Geschichten werden nicht erzählt. Und dabei gibt es so viele kleine Initiativen, so viele positive Bewegungen, die ein Umdenken anzuleiten vermögen. Wie gehe ich mit meiner sozialen Mitwelt um? Wie gehe ich mit Ressourcen um?“
„Da gibt es so vieles, und es wird nicht erzählt. Wir sind an ein Ende der großen Erzählung gelangt. Jetzt braucht es die vielen, kleinen Erzählungen!“
Wie die Geschichte von „über.morgen“ ausgeht? Das war eine große, letzte Herausforderung für Claudia und ihr Team. „Wie lasse ich die Geschichte enden?“ Ich war dabei und kenne das Ende. Soll ich es Ihnen verraten? Stellen Sie sich einfach vor, Sie stehen auf dem Parkdeck des OK und blicken über die Stadt Linz. Sie sehen die Hügellandschaft des nahen Mühlviertels, die Donau, Gebäude, Fassaden, den blauen Himmel über Ihnen. Menschen, die plötzlich so klein wirken, dass man selbst sich als Riesin fühlt. Langsam verstummt die Stimme in ihrem Kopf. Alles ist möglich! Es ist ihre Geschichte! Es ist ihre Zukunft! Was denken Sie? Wie fühlt sich ihre Zukunft an?
Im Hoffen auf eine zweite Spielserie für das aktuelle Projekt des “theaternyx*”: “Die Jahre” von Annie Ernaux
Claudia in der Schnellantworterunde
Was war einer der berührendsten Momente, an den du dich erinnern kannst?
Lächelt: „Da gibt es so viele. Besonders sind es die ersten 10 Minuten. Dieser Moment, der voller Spannung ist, niemand weiß, was kommt, worauf man sich eingelassen hat. Und dann sind plötzlich alle drin. Wie bei „über.morgen“: Spätestens nach dem Sprung in das Jahr 2050 sind die Leute Teil der Erzählung.
Es ist so schön zu sehen, wenn Distanzen gebrochen werden. Wie beim Performance Parcours. Es haben 18 sehr junge Performer_innen gespielt und da war zunächst eine gewisse Ablehnung seitens des Publikums zu spüren. So in Richtung: „die Jungen erzählen uns halt wie sie sich das vorstellen mit der Zukunft“ und plötzlich ist da so ein Sog spürbar, der alle Beteiligten mitnimmt auf eine Reise. Zu sehen und zu erleben wie gerne die Menschen die Stimme im Ohr hatten, hat mich berührt. Manche wollten gar nicht mehr ohne sie sein. Die auditive Stimulierung war Teil eines meditativen Zustandes, der das real Vorhandene trotz der Überschreibungen zu einem inneren Gespräch hinführte.
Mich berührt es, wie stark die Dystopie wirkt. In den Medien, aber ebenso in der Kunst. Warum ist das so? Warum beschäftigen wir uns so stark mit Negativität, mit zerstörenden, verstörenden Bildern von Zukunft? Ist das vielleicht so viel leichter zu erzählen? Wir haben uns beim Performance Parcours ein kleines Match geliefert und uns Mal auf die Suche nach positiven Meldungen gemacht. Einfach Mal ausprobieren! Was ist überhaupt eine positive Meldung?
Hat “über.morgen” deinen Alltag verwandelt?
“Ja, sicherlich auch. Besonders mein Konsumverhalten hat sich verändert. Ich habe einfach keinen Spaß mehr beim Einkaufen. So was passiert dir einfach. Meine Wahrnehmung wurde auch geschärft, aber ich mach das schon so lange: das genaue Hinschauen, Experimentieren, Wahrnehmen, Räume, Öffentlichkeit erkunden. Mit dem Thema Zukunft beschäftige ich mich sicherlich jetzt intensiver.”
Wann hast du zuletzt geweint?
Lächelt: “Ich weine relativ viel!”
Was lässt dein Herz hüpfen?
”Wenn künstlerische Vorhaben aufgehen”
Wann verschlägt es dir die Sprache?
“Wenn ich erlebe, dass mir etwas zufällt. Menschen, Momente, Situationen mir begegnen, wo ich weiß, dass kann jetzt kein Zufall sein.”
Ist dir schon einmal ein Wunder begegnet?
“Ja! Dann, wenn es mir die Sprache verschlägt.”
Ich bedanke mich bei Claudia Seigmann für dieses wunderbare Gespräch.