Zeit der Wunder
Den Auftakt macht Genschers Balkon-Rede. Seit Wochen haben sie im Fernsehen die Szenen in der Prager Botschaft mitverfolgt. Werden sie ausreisen dürfen, werden sie nicht dürfen, und dann, eher zufällig, sitzt Arlena mit dabei bei der Tagesschau, als er fällt, dieser Satz, dieser berühmte, der dann im Jubel untergeht. Normalerweise interessiert sich Arlena nicht sehr für Politik. Sie ist vierzehn, mit dem Kopf woanders, aber das, was da in Prag vor sich geht, hat die ganze Familie in Bann gezogen. Ein Vorbote für das, was kommen wird, auch wenn es noch unmöglich scheint. In ferner Zukunft, der Sozialismus in Stein gemeißelt, für die Ewigkeit. Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise… Mehr nicht, nur diese wenigen Worte, sogar der kleine Bruder erfasst die ihre Bedeutung, die Emotionen, die sie auslösen. Warum freuen sie sich so, wohin sollen sie reisen? Zurück nach Deutschland? Das ist er gewöhnt, von Prag zurück nach Deutschland. Ja, nein, ins freie Deutschland, erklärt Mama. In welches sonst? In die DDR. Die DDR, was ist das? Dort ist es wie in Prag. Wie ist es dort? Man darf nicht hinaus. Wir schon. Ja, aber wir sind nur Gäste. Das ist ein großer Schritt. Der Osten gibt nach, endlich, in Moskau dieser Gorbatschow, vielleicht gibt es eine Chance. Eine Chance auf was? Eine Chance auf das Ende. Unwahrscheinlich. Papa, der Pessimist. Honecker und Husák sind Betonköpfe, die werden sich nie bewegen. Denkt nur an die letzten Demonstrationen. Wie brutal die Polizei da vorgegangen ist. Aber trotzdem, sagt Mama. Vielleicht, vielleicht.
Sie wird Recht behalten. Anfang November erlaubt die ČSSR den DDR-Bürgern die Ausreise in den Westen, nach den Ungarn das zweite Land, das den Eisernen Vorhang öffnet. Doch zu dem Zeitpunkt ist Arlena schon wieder mit anderen Dingen beschäftigt. Sie fliegt nach London, Schüleraustausch, mit ihrer ganzen Klasse, das erste Mal fliegen, zu zweit teilen sie sich die Kopfhörer von Nadjas Walkman, darin läuft Girl I’m gonna miss you von Milli Vanilli, Lambada und Phil Collins. Hinter ihnen sitzen die Jungs, Stefan, Markus, Dirk, und Arlena sitzt am Fenster, Glück gehabt, mit ihrem kleinen Knipser fotografiert sie die Wolken. Mitten in der Nacht mussten sie aufstehen, der Flug ging um sechs Uhr in der Früh. Von Gatwick mit dem Reisebus nach Cambridge, und dann diese Aufregung, wie wird sie sein, meine Gastfamilie? Wie sieht sie in echt aus, die Brieffreundin? Ein paar Mal hat man hin- und hergeschrieben, Fotos und Hobbies ausgetauscht, aber das jetzt etwas ganz anderes. Eine Woche in einer fremden Familie. Sind sie nett? Wo wird sie schlafen? Wir ihr das Essen schmecken? Was, wenn sie Heimweh bekommt? Ferngespräche sind teuer. Telefonieren werden sie nur einmal in der Mitte der Woche. Die Freundinnen nur tagsüber sehen, es gibt viel Programm, die Engländerinnen in ihren entzückenden Schuluniformen, alles in Anthrazit, Röcke, Westen, Strumpfhosen, nur die Blusen sind weiß und die Krawatten dunkelgrün, wie gern hätte sie wenigstens so eine graue Weste. Sight-Seeing in London, Cats, Besichtigung von Cambridge, Tagesausflug nach Brighton in Regen und Sturm, sie streifen durch die Stadt, Treffpunkt später am Peer bei der Spielhölle, und dann plötzlich die Gastmutter, die sie eines Morgens zur Seite nimmt, hast du es schon gehört? In Berlin ist die Mauer gefallen. Sie zeigt Arlena ein Bild in der Zeitung. Menschen, die über die Mauer strömen, keine Schüsse mehr, keine Toten, alle in Feierstimmung, Arlena ist sprachlos, zuerst. Dann sagt sie doch etwas. Hoffentlich ist es in der Tschechoslowakei auch bald so weit. Denkt an ihre Familie. Abends das Telefonat mit den Eltern, was sagst du jetzt, Papa, fragt Arlena als erstes, wenn er nicht mehr schwarzsieht, muss wirklich etwas in Bewegung sein. Man wird sehen, seine Antwort. Aber seine Worte klingen hoffnungsvoller als sonst. Mama freut sich unverhohlen.
Als sie zurück ist, geht es in Prag Schlag auf Schlag. Zuerst die Studenten, dann Tag für Tag mehr Menschen auf der Straße, Auftritte Havels und Dubčeks, überall Euphorie, aber friedfertig, die Revolution, erhobene Schlüsselbünde statt Fäuste, die Samtene. Jeden Abend sitzen sie vor dem Fernseher, suchen in der Menge nach vertrauten Gesichtern, und dann die neue Regierung und Husák, der aufgibt.
An Weihnachten sind sie dann selber vor Ort. Überall in der Stadt Aufbruchstimmung, überall Optimismus, tschechische Fahnen und Plaketten der Bürgerbewegung OF, Občanske Forum, Václav Havel ihr Gesicht. Am menschenüberfüllten Altstädter Ring mit ihrer tschechischen Freundin will sich Arlena einen Weg durch die Menge bahnen, die Freundin hält sie zurück. Nein, nicht drängen, wir wollen friedlich sein, eine sanfte Bewegung, sie bleiben einfach stehen, warten, bis sich die Menge von selber öffnet.
Auch in der Neujahrsnacht sind überall Menschen auf der Straße, sie liegen sich in den Armen, stoßen an, auf bessere Zeiten. Jetzt wird alles anders. Arlena und ihre Familie mitten drin. So wie bei euch, sagt jemand zu ihnen. Von allen Seiten werden sie gedrückt, überall Freude in den Gesichtern, Ungläubigkeit. Das Versprechen von Freiheit in der kalten Nachtluft. Eingelöst am nächsten Morgen in der Neujahrsansprache des Präsidenten. Alle haben sich vorm Fernseher versammelt. Das Unglaubliche mit eigenen Augen sehen. Vom Dissidenten zum ersten Staatsmann. Auf einmal scheint alles möglich. Sogar Wunder. Die ganze Nation verfolgt Havels Worte. Keine Lügen mehr, eine ehrliche Bestandsaufnahme, es gibt viel zu tun, bald wird es freie Wahlen geben. Endlich wieder Demokratie, endlich wieder Hoffnung.
Helena Srubar