Wunder in Szenen. Aus einem Brief
Eigentlich sind wir beide uns ja sehr ähnlich, liebe Wundersucherin. Ich habe 16 Jahre in der Erwachsenenbildung Kurse für Berufsreifeprüfung Mathematik gehalten. Und ich kann dir versichern: Das war eine fortwährende Suche nach Wundern. Nein, im Ernst: Ich habe meinen Beruf so unendlich geliebt, weil ich hier tatsächlich so oft Zeugin von Wundern werden durfte. Viele meiner ehemaligen Schüler können es bestätigen: Immer wieder lernte ich zu Beginn der Kurse Menschen kennen, meist waren es Frauen, die völlig verschreckt waren, was das Fach Mathematik anbelangte, und die sich überhaupt nicht vorstellen konnten, die Matura jemals zu meistern, so tief saß ihr oft viele Jahre vorangegangenes Scheitern. Dennoch hatten sie sich zum Kurs angemeldet und das zeigte mir ihren tiefen Wunsch es schaffen zu können. Und da konnte ich ansetzen. In der ersten Zeit musste es mir gelingen, ihren Frust abzubauen, um danach Schritt für Schritt und mit viel Geduld und liebevoller Ermutigung die Bahnen zu einem möglichst angstfreien und effizienten Lernen zu ebnen. Es war oft auch anstrengend für mich, aber ich liebte diese Herausforderung. Und wie schön, was für ein Erfolg auch für mich, wenn es gelang, dass diese Menschen die Matura in Mathematik schafften, manchmal sogar gar nicht so schlecht. Ich durfte Zeugin eines Wunders werden.
Und das zusätzlich Schöne daran war, dass das unselige Vorurteil über sich selbst, das diese Frauen hegten, gebrochen war. Nie mehr wieder würden sie zu ihren Töchtern sagen: „Natürlich bist du unbegabt in Mathematik, ich konnte das schließlich auch nie.“
Szenenwechsel. Ich besuche die Lesebühne im Strandgut. Die Veranstaltung wird im nahegelegenen Park abgehalten, die Sessel in lockerer Anordnung, mit Abstand. Ich bin zum ersten Mal da, suche nach einem freien Platz. Sehe eine junge, hübsche Frau mit einem kleinen Sohn. Ich frage, ob der Platz neben ihr frei ist. Die erste Autorin beginnt zu lesen. Ich nippe an meinem Weißweinglas und stelle es vorsichtig neben meinen Sessel ins Gras. Ich fühle die Nervosität der Frau neben mir. Als sie aufsteht und zum Mikro geht, um ihre Texte zu lesen, erschrecke ich selbst ein wenig. Aber nun höre ich ihre feste Stimme, die perfekte Sprachmelodie, die gewählte, lyrische Ausdrucksweise und sie nimmt mich mit in die Welt ihrer Gedanken. Und ich spüre: Diese Sprache verstehe ich. Das kommt bei mir an. Ganz tief am Grund.
Und da, liebe Wundersucherin, entsteht Resonanz. Es tönt nicht nur zurück von mir: Die Schwingungen im Gleichklang verstärken sich um ein Vielfaches. Möglich, dass beide Teile es dann wahrnehmen. So können Begegnungen zu etwas Schönem, Lebendigem, Bereicherndem werden, wenn wir uns öffnen für das Wunder.
Im Duden finde ich unter „Wunder“ auch eine mir bisher unbekannte Bedeutung, nämlich eine nicht mehr gebräuchliche Version. Als Beispiele werden genannt: „Er meint, Wunder was geleistet zu haben“ oder „Er bildet sich ein, Wunder wer zu sein.“ Das finde ich äußerst interessant. Nur mehr ein kleiner sprachlicher Schritt ist es von hier, sich vorzustellen, selbst Wunder sein zu können.
Eine Illusion? Oder doch eine berechtigte Sehnsucht?
In die Winde horchen
die Nebel einatmen
den Vollmond betrachten
und die Nacht auf der Haut spüren.
Die Arme ausbreiten und tanzen.
Das Wunder der Verbundenheit wahrnehmen.
Selbst zum Wunder werden.
Oder wie es Ruth C. Cohn so wunderbar ausdrückt:
Lichtung
Zu wissen, dass wir zählen
mit unserem Leben
mit unserem Lieben gegen die Kälte
für mich
für dich
für unsere Welt
Wissend, Wunder wie verbunden zu sein
Marianne Gruber