"Man muss mit allem rechnen, auch mit dem Schönen"
Ein Besuch im „Atelier Vielfalt“ bei der wunderbaren Modistin Susanne Dullinger, in der mir die lebenslustige und mutige Frau berührende Einblicke in ihre Lebens- und Arbeitswelt gewährt. Ein Gespräch über das Suchen und Finden der eigenen Balance und den unbedingten Drang, auf die eigenen Sehnsuchts-Stimmen zu hören. Und manchmal braucht vielleicht jede/r von uns einen Visionshut. Wo man hingeht, wenn es so weit ist, erfahren Sie, wenn Sie jetzt neugierig geworden sind, weiterzulesen.
Mein erster Blick fällt auf einen Spruch, der die Verkaufstheke im Geschäft der Modistin Susanne Dullinger ziert. “Man muss mit allem rechnen, auch mit dem Schönen.” Susanne strahlt mich mit ihrem breiten und so fröhlichen Lächeln an. „Die Natur macht aus allem etwas, man muss nur Hinschauen und es sehen, das zarte Pflänzchen am Wegesrand“, so Susanne. Die Natur, mit ihren prächtigen Farben, ihrem unbändigen Willen sich zu entfalten, sich zu behaupten in den Zwischenräumen der zubetonierten Straßen und verbauten Flächen ist es wohl, die Susanne Inspirationskraft verleiht und sie immer wieder lockt, zu verweilen, zu staunen, zu entdecken und durchzuatmen, wenn alles zu laut wird in ihr. Ob im Schnittlauch, der sich entschied in ihrem Garten breit zu machen, oder in den rauen, grauen Flechten, die die Oberflächen der Steine und Bäume zu wunderschönen Details verwandeln, sie alle zeugen von einem tiefen Lebenswillen:
„Da ist so viel möglich, und noch viel mehr!“
Es ist eine Neugierde auf ihre Umwelt, die sie seit ihrer Kindheit begleitet. Ihre Welt ist eine voller Wunder, eine Spielwiese für Engel und Feen, eine Fantasiewelt, die ihr zur zweiten Realität wird. Denn ihr unbändiger Wille zu Sein wird in ihrem Leben nicht bloß einmal auf die Probe gestellt, und dafür braucht es starke Verbündete. „Ich war kein Wunschkind, die Mutter oft sehr trübsinnig und mit sich beschäftigt. Mit 14 Jahren kam ich in eine Klosterschule, ich war rebellisch und es war mir einfach viel zu eng.“ Susanne erzählt mir von ihrem Blick nach unten in den Klostergarten. Es ist eine Kraft, die nach unten zieht, eine Ahnung oder Sehnsucht nach Leere, die beängstigend wie faszinierend auf sie wirkte. In diesem Moment hätte sie keine Angst gehabt hinunterzufallen. Nach tagelangem sich zurückziehen, eröffnet sich ihr eine neue Perspektive auf sich selbst und die Welt: „Jetzt habe ich die Tiefe erreicht und jetzt nehme ich diesen Grund an.“ Andere haben ein Magengeschwür und ich habe eine Grube,“ gibt sie mir zu verstehen.
Im selben Moment muss sie lachen, denn so einfach sei das nun auch wieder nicht! „Wie denn die Leere füllen?“ Für Susanne war genau dies ein Wendepunkt, an dem Sie erkannte, dass es darum gehen müsse, die Leere nicht immer von Neuem füllen zu wollen, sondern sie annehmen zu lernen. „Ja, das ist meine Grube und ich bin ganz unten angekommen. Ich weiß, dass es tiefer nicht mehr geht,“ so Susanne. Welch Geschenk, einem Menschen gegenübersitzen zu dürfen, der plötzlich beginnt in tausend Facetten zu schimmern. Wenn ich an Susanne denke, dann habe ich eine strahlende und starke Frau vor mir, die mich von Mal zu Mal mehr fasziniert. Heute wird mir bewusst, von Angesicht zu Angesicht musste sie eine Ohnmacht und Dunkelheit schauen, um diese in ihr Gegenteil verwandeln zu können. Heute blickt sie nicht wehmütig zurück. Zu kostbar erscheint der Abstieg in ihre „Grube“, doch hat sie gelernt, im Moment zu leben. „Jetzt bin ich hier!“
Gemeinsam schweigen wir einen Moment, dann betritt eine Kundin den Raum. Eine besondere Kundin, wie ich erfahren werde, es ist Donna E. Price eine Künstlerin, die aus alten Verkehrsschildern u.a. Schmuckstücke gestaltet und diese im Verkaufsraum von Susanne anbietet. Eine wahre Herzensangelegenheit, den Verkaufsraum in einen multifunktionalen Begegnungs- und Ausstellungsraum zu verwandeln, der ganz flüchtig und im Vorbeigehen kleine Irritationen und Störungen im Rhythmus der Menschen verursacht.
Wo bin ich daheim? Wo gehöre ich hin? Wer bin ich? Wer möchte ich eigentlich sein?
Fragen, die sich auch Susannes Kundinnen stellen, wenn sie ihr Geschäft betreten, zunächst vorsichtig, ein bisschen aus der Ferne die Hutkreationen betrachten, bis das Eis gebrochen ist und sie nach Lust und Laune Hüte anprobieren und vielleicht sogar in verschiedene Rollen schlüpfen. „Frauen müssen sich wieder ihre Kronen aufsetzen!“ So lautet Susannes Credo und lädt die Frauen gerne zu behüteten Stadtspaziergängen ein. Es ist Susannes ganz spezielle Gabe, Menschen mitten in die Augen und tief in die Seelen zu schauen, wenn sie auf der Suche nach ihrer individuellen Krone sind. „Der Hut ist kein Accessoire, sondern ein starkes Statement für das gesehen- und gehört-werden-Wollen von Frauen,“ betont Susanne immer wieder. Sie kann sich noch gut erinnern, als sie ihren ersten Hut aufsetzte, damals als sie mit ihrer Mutter im Hut- und Handschuhsalon war. Als 16-jährige mit einem beigen Cape und einem dazu passenden, breiten Schlapphut auf dem Kopf. In einer Zeit, als sich die Damen eher die Haare toupieren, setzt Susanne sich ihre Hüte auf. Sie erzählt mir vom Sommerhut und dem eleganten, schwarzen Hut zum cremefarbenen Kostüm. Wie gerne würde ich jetzt Bilder sehen. Wie Susanne wohl ausgesehen hat? Mit Sicherheit sehr elegant, wild, unbändig, leidenschaftlich, eigensinnig und stolz. Es war eine Liebe auf den ersten Blick, aber es sollte noch ein Weilchen dauern, bis diese Liebe ihren Alltag zu füllen vermochte. Denn zunächst folgt Susanne einer anderen Passion: dem Zuhören. Sie beginnt ihr Psychologiestudium, beendet es als promovierte Psychologin und eröffnet ihre erste eigene Praxis, die sie leidenschaftlich führt und damit nicht selten für Irritation im verschlafenen, kleinen Dorf im Salzkammergut sorgt.
„Ich weiß, ich kriege drei Kinder.“
In dieser Zeit wird eine andere Stimme in ihr laut und Susanne und ihr Mann beginnen über Kinder zu reden, am liebsten sollten es drei Kinder werden. Eine lange Zeit des Wartens stellt sich ein. So entscheiden sie sich, auf künstlichem Wege ein Baby zu bekommen. Nach Anraten der Ärzte hätte sie sich auf 5–7 Versuche der künstlichen Befruchtung einstellen sollen, doch Susanne weiß es besser: „Einmal versuchen wir es und wenn es nicht klappt, dann reisen wir.“ Nach dem ersten Versuch steht ihr eine gute Freundin zur Seite und gibt ihr den Rat. „Du darfst deine Eizellen nie alleine lassen. Deine Gebärmutter muss so groß und weit werden, als würde sie deine Kinder umhüllen, egal wo sie sind.“ Susanne, zu diesem Zeitpunkt zum Inbegriff einer Membran geworden, darf sich über „drei ganz wunderschöne, befruchtete Eizellen“ freuen, wie sie Susanne nennt. Drei Kinder wachsen in ihr heran, so wie sie es sich immer erträumt hatte. Am Tag der Geburt kommt es zu Komplikationen und das dritte der drei Mädchen ringt um Luft. Die Mädchen überleben, und das dritte von ihnen trägt von nun an den Namen: Joy.
Ich werde ganz still und bin erschüttert, als Susanne mir von den ersten Monaten im Krankenhaus auf der Frühgeborenenstation berichtet. Drei Monate lang muss sie zuschauen, wie die eigenen Kinder versorgt werden, drei Monate lang um Erlaubnis bitten, die eigenen Kinder auf den Bauch gelegt zu bekommen, bis sich Susanne eines Tages entschließt für ihre Rechte als Mutter einzutreten. „Sie sind hier in meinem Wohnzimmer“, gibt sie den Schwestern zu verstehen, als sie ihr die Kinder im eigenen Familienzimmer wieder abnehmen wollen. Susanne wird mit ihren drei Mädchen und in dem Glauben entlassen, dass Joy ihr Leben lang ein „Patscherl“ bleiben wird. Doch damit will sich Susanne nicht zufriedengeben.
„Mütter brauchen mehr Hoffnung!“
An jenem Tag als die Mädchen das dritte Lebensjahr erreichen macht Joy große, mutige Schritte auf den zuständigen Arzt zu. Dieser beginnt zu weinen. Susanne blickt ihm tief in die Augen: „Wenn Sie die Türen für die Mütter zumachen, dann glauben diese das auch. Die Türen sind nie zu! Mütter brauchen mehr Hoffnung, denn es gibt immer 2 oder 3 Wege, nicht nur den einen! Und das lernen Sie nicht aus Büchern. Sie müssen hinschauen!“ Die ersten Lebensjahre gehen rasch vorbei, Susannes „Grube“ ist nicht selten präsent. Mit der Einschulung der Kinder beginnt sie ihre zweite Ausbildung: Sie wird Montessori Pädagogin und arbeitete nebenher in ihrer Praxis. Ob sie die Balance wiedergefunden habe, will ich wissen und da muss sie lächeln und zieht den Blick nach oben: „Vermutlich gibt es Zeiten im Leben, in denen es diese Balance einfach nicht gibt, man sich im ständigen Konflikt zwischen Familie und Beruf befindet.“ Was die beste Methode auf der Suche nach dem Finden seiner Selbst ist, erfahre ich auch: „Ehrlich sein!“ „Man kann nicht zehn Minuten vorher eine schreckliche Missbrauchserfahrung gehört haben und dann nahtlos mit den Kindern spielen. Viel besser ist es, den Kindern zu sagen: Jetzt brauche ich 10 Minuten und dann bin ich für euch da.“ Wenn Susanne heute von ihren Töchtern zu hören bekommt, dass sie mindestens drei Berufe erlernen möchten, dann hat sie das Gefühl, etwas echt gut gemacht zu haben. Ja, der dritte Beruf von Susanne, der folgt als sie sich mit 52 Jahren entschließt eine Ausbildung zur Modistin in Graz zu machen. Von einem „Schicksalsmoment“ spricht sie, als sie auf eine erste, unverbindliche Facebook Anfrage die Antwort ihrer künftigen Ausbildnerin erhält: „In zwei Wochen sehen wir uns beim Hutmach-Workshop in Graz. Wir freuen uns auf unsere nächste Modistin,“ antwortet ihr ihre künftige Ausbildnerin. Für Susanne beginnt eine spannende Lehrzeit, die sie über drei Jahre hinweg, insgesamt 24 Wochenenden lang nach Graz führt, um ihrer Sehnsucht zu folgen. „Selbst, wenn niemand die Hüte kaufen möchte, dann trage ich sie eben selber,“ beschließt Susanne für sich. Doch die Hüte werden gekauft und so kann das „Atelier Vielfalt“ eröffnet werden.
Sie arbeitete bisher für Galerien, Emanuel Burger Couture und für das Projekt Domfrauen, bei dem sie 30 Frauen mit individuell gefertigten Kopfbedeckungen ausstattete und ihnen zu einem ganz besonderen Auftritt im Mariendom verhalf. Gegenwärtig sichtet Susanne den Nachlass von Frau Anderst, aus deren Hutgeschäft in der Herrenstraße. Ich selbst erinnere mich gerne an Frau Anderst, die ihren Hut Salon seit 1976 führte. Ich traf sie öfters in der Bäckerei Brotsüchtig. Ihre steten Begleiter: ziemlich ausgefallene Kopfbedeckungen, die mich immer neugierig auf diese Frau machten. Jetzt erinnert so manch Kunstwerk im Raum von Susanne an das fröhliche Gesicht jener Dame, die so gerne von ihren Abenteuerreisen erzählte.
Susanne kämpft für die Zukunft ihrer Kinder, besonders für Joy hat sie bürokratische Spießroutenläufe auf sich genommen, um die bestmögliche Umgebung für sie zu finden, eine Umgebung, in der sie sich selbstbestimmt und frei entfalten kann. Letztendlich gründet sie ihren eigenen Verein: „Von Mensch zu Mensch“, und betrieb bis 2020 eine Einrichtung für Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen. Ich staune ob der enormen Kraft und Leidenschaft, mit denen sie ihre Welt gestaltet. Zwischenzeitlich, da muss sie mir gestehen, musste sie sich selbst einen Hut gestalten und strahlt über das ganze Gesicht, einen ganz besonderen, einen Hut, der ihre Gefühle in eine Form bringt, „Visionshut“ nennt sie ihn, in orange und schwarz gehalten, mit einer klagen Ausrichtung, einer tiefen Kerbe auf dem Oberkopf, die alles einfängt und in Fluss bringt. Ich bin fasziniert und denke mir, ich möchte auch einen „Visionshut“. Eine Kundin betritt Susannes Laden. Ein guter Moment um aufzubrechen. Zuvor habe ich noch eine Schnellantwortrunde für Susanne vorbereit– naja, so kurz sind die Antworten dann doch nicht ausgefallen, aber das gehört auch ein klein wenig zur wunderbaren Susanne dazu.
Susanne in der Schnellantworterunde
„Wie weiß man, dass es Liebe ist?“
Lacht und schweigt einen Moment. “Wenn einem immer noch das Herz aufgeht. Liebe ist das stärkste Gefühl überhaupt. Liebe ist das Freieste, weil man es nicht erzwingen kann. Je freier wir diese Liebe leben umso freier werden wir selbst. Liebe bedeutet sich frei zu machen von halten, binden wollen, meint, sich frei machen von allen Erwartungen. Es gibt so viele Formen, oder Verkleidungen für die Liebe, die keinem Gesetz folgt: Freundschaft, Menschen, Dinge, Orte, Tiere, alles ist fließend und in Verbindung. Liebe kann man nicht bändigen, sie nicht in Bahnen lenken.
Liebe verändert sich, wird mit der Zeit wohlig warm und verheißt Geborgenheit. Aber man vermisst es schon, das flattrige Gefühl des Verliebt- Seins.
Liebe macht uns so lebendig und macht in ihrer Vielfältigkeit den Menschen als Menschen aus. Ich möchte die Tiefe der Liebe erreichen, wo das Wollen aufhört, wo es keine Erwartungen mehr gibt. Nur mehr lieben. Da sind wir dann bei der Erlösung.” (da muss sie selbst lachen)
Wann verschlägt es dir die Sprache?
”Wenn Menschen frech und egoistisch, ohne Rücksicht zu nehmen, einfordern.
Wenn Großzügigkeit ausgenützt wird. Wenn Grenzen überschritten werden.
Wenn ich menschlich enttäuscht werde, dann kommen mir diese Menschen nur schwer wieder nahe.”
Wann hüpft dein Herz?
”Wenn ich aus der Fülle an Möglichkeiten schöpfen kann.
Beim Anblick von Tieren und wenn ich Freiheit spüre.”
Wann weinst du?
”Vor Freude, wenn Nationen geeint auftreten.
Angesichts von Tierleid, weine ich, wie bei grober Gewalt.
Ich weine, angesichts von alltäglichen Respektlosigkeiten.”
Ist dir schon Mal ein Wunder begegnet?
”Viele!” (lächelt)
Einem Wunder zu begegnen bedeutet für dich?
”Wunder geschehen, wenn man sie geschehen lässt.
Das Leben in seiner Fülle zu erkennen:
Die kleine Hyazinthe im Spalt ist ein Wunder für mich, und ich muss nur hinschauen.
Zwei Mal musste ich mein Kind innerlich freigeben. Am 23.12. war Joy im Krankenhaus in Graz wegen einer Stenose, und ich hatte zwei Säuglinge zu Hause, aber ich musste doch dort hin, ich bin doch die Mutter. Und bei ihr sitzend hatte ich das Gefühl, es geht ihr nicht gut, wenn ich da bin. Sie war so unruhig. Der Arzt war so dankbar, dass ich dies erkannte. Ich habe Joy an diesem Abend die Erlaubnis gegeben, gehen zu dürfen. Wegen mir musst du nicht bleiben, habe ich ihr geflüstert. Das Wunder war, dass ich loslassen konnte, Kontrolle abgeben konnte in diesem Moment. Loslassen heißt, schwach zu sein, es nicht mehr in der Hand zu haben. Joy hat überlebt. Ja, Wunder begegnen dir jeden Tag.”
Ich bedanke mich bei Susanne für dieses wunderbare Gespräch.