Von der Wunde und dem Wunder, ein Querdenker zu sein
Vieles lässt sich über ihn finden, da braucht man gar nicht lange zu suchen, Vieles wurde er gefragt und Vieles hat er selbst geschrieben. An Vielem lässt er uns teilhaben, was er erlebt und erleidet, warum es sich lohnt, sich quer zu stellen, lauthals zu lachen und spielend, manchmal Purzelbaum schlagend die eigenen Wege auszuloten. „Wer Trawöger kennt, hegt manchmal den Verdacht, er teile sich das alles mit mehreren Klonen oder seinen Drillingsbrüdern, denn einer alleine kriegte nie so viel weiter, und wenn doch, dann nicht so gut gelaunt.“ (Dominika Meindl)
Besser lässt es sich nicht formulieren: Wenn Sie neugierig geworden sind, und ein klein wenig hinter die Kulisse blicken wollen um zu erfahren, was es auf sich hat mit den Wundern und Wunden im Leben von Norbert Trawöger, dann sollten Sie jetzt weiterlesen.
Ein großer Mann kommt beschwingten Schrittes auf mich zu, einen leuchtend blauen lackfarbenen Rucksack auf den Schultern, eine große Brille auf der Nase. Mit einem fast schüchternen Lächeln streckt er mir die Hand entgegen. Er kommt keine Minute zu früh und keine zu spät. Das zerzauste Haar ist ungebändigt. Ob er wohl so aufsteht, überlege ich, wie wohl schon so manch andere_r darüber philosophiert haben dürfte. Man weiß es nicht so recht. Ich weiß es nicht. Ein spezieller Zauber umgibt diesen Menschen, der mir in seiner Erscheinung Bilder anbietet und Assoziationen weckt und diese in einem nächsten Moment wieder zerstreut. Bislang habe ich nur von ihm und über ihn gelesen. Seine „Glücksrandbemerkungen“ das „Bekenntnis zum Mist - eine (un) mögliche Anweisung zu kreativem Handeln“ gingen mir so unter die Haut, dass ich von Angesicht zu Angesicht sehen und erleben wollte, wie er spricht, wenn er nicht spielt oder schreibt. Norbert Trawöger gilt als „enfant terrible“ ganz vieler Szenen. Ist Tausendsassa, Luftikus, schöpferischer Gestalter und Umkrempler. Gilt als einer, der tätig ist, weil er es muss, nicht weil es ein Außen vorgibt, sondern weil er will und gar nicht anders kann. Norbert ist Musizierender, Lehrender, Quer-Flötist, Gastgeber und studierte Führungskraft für Kunst- und Kulturbetriebe. Ein bisschen Clown, Zirkusdirektor und Spielmann. Ein unglaublich vielseitig interessierter und inspirierender Mensch, der gerne Bühnen betritt, für neuen Wind hinter den Kulissen sorgt und manchmal ganz zärtliche, ja fast verletzliche Facetten durchschimmern lässt. Ich durfte Einiges davon bestaunen.
„Eine Verwundung der Kindheit“
Schon sein erster Gedanke überrascht mich – meine Verwunderung lässt sich wohl nicht verbergen. Denn sich selbst beschreibt Norbert als „stilles und zurückgezogenes Kind, als angepasst und spätpubertierend.“ Erst nach seiner Pubertät beginnt das innere Feuer zu lodern und sich einen Kanal zu suchen, um auszubrechen. Norbert Trawöger wächst in einer Musiker_innen Familie auf. Vater, Onkel und später die Halbschwester Karin Bonelli bilden ein Biotop, dessen Gravitationszentrum die Liebe zur Musik darstellt. Der Vater gleicht einer Ikone, ist er doch ein bekannter Flötist, und wird zur währenden Reibungsfläche für den jungen Mann, der selbst einen unbändigen Willen zur Musik in sich verspürt, die eigene, unverkennbare Ausdrucksform aber erst finden muss. Die frühe Trennung der Eltern wirbelt das Idealbild einer heilen Familie kräftig durcheinander und hinterlässt Spuren, sogar Wunden, in Norberts Biografie. Rückblickend erfährt und begreift er das Fragment und die Brüchigkeit des Lebens als einen natürlichen Teil des Daseins und lernt Schritt um Schritt, sich an den Rändern zu bewegen und sich dort immer wieder neu zu er-finden. Dies scheint für ihn wohl ein lebenslanger Prozess zu bleiben.
Norbert entscheidet sich für den Militärdienst und beschreibt diese Zeit als „sinnloseste Zeit seines Lebens“. Nach mehrfachen Versuchen einen Platz an der Wiener Musikhochschule zu bekommen, schafft er es mit 23 Jahren dem Idol seiner Zeit, Wolfgang Schulz, ein Stück näher zu kommen. Die Studienzeit verläuft turbulent und fordert ihn in seiner ganzen Existenz. „Was ist der Sinn? Welche Richtung wird mein Leben nehmen? Die Zeit verläuft recht konfrontativ. Im Wunder steckt auch Wunde.“ Sein Lehrer Wolfgang Schulz prägt die ersten Schritte und hält die Sehnsucht nach dem eigenen Profil wach, indem Norbert ihn als konstante Reibungsfläche erfährt, die mitunter vor Augen führt, dass es keinen Gleichklang beider Musiker geben wird können. Heute weiß er genau: „Es hat gepasst, weil wir überhaupt nicht zusammengepasst haben.“ Für Norbert bedeutet es noch ein hartes Stück Arbeit, der eigenen musikalischen Ausdrucksform – frei, schöpferisch, improvisierend –, wie seinem existentiell künstlerischen Zugang entdecken und trauen zu lernen.
„Heute bin ich dankbar, dass die Not so groß war, dass ich jemanden suchte, der mir den Spiegel vorhielt.“
Er spielt Konzerte und genießt es, auf Bühnen zu stehen. Dabei sich selbst und dem Geheimnis seines eigenen Antriebes näher zu rücken, um die eigene musikalische Vielfältigkeit zu entdecken. Er liebt es auch heute, sich den transzendierenden Klangteppichen der Konzerthäuser, die einen Raum zu füllen vermögen, hinzugeben, die Leidenschaft des Publikums zu absorbieren. Damals ist der Druck von allen Seiten übermächtig:
Abgrenzungsbestrebungen dem eigenen Vater gegenüber, das Suchen nach dem Sinn und der Ausrichtung in seinem Leben, beginnen unüberhörbar zu poltern. „Heute bin ich dankbar, dass die Not so groß war, dass ich jemanden suchte, der mir den Spiegel vorhielt,“ so Norbert. „In welche Richtung es gehen sollte, hat sich plötzlich gefügt.“
Er verlässt die Musikhochschule, wird aufmerksam auf die Flötistin Manuela Wiesler und kontaktiert sie. Wohlwissend, dass sie keine Schüler_innen mehr unterrichtet, schafft er es ihre Geheimnummer ausfindig zu machen und wird ihr letzter Privatschüler. „Sie war ein Wunder von einem Menschen. Eine Frau mit riesigem Herzen, die in ihrer Wohnung wie eine ,Mönchin’ gelebt hat“, erinnert sich Norbert. Für ihn wurde diese Frau zur persönlichen „Lebensretterin“, weil sie „wirklich mich gesehen hat und mir zum ersten Mal das Gefühl gab, richtig zu sein, so wie ich bin,“ resümiert Norbert. Er holt sich gerne jenes Motto seiner Förderin hervor, welches den Stil des gegenseitigen Sich-Wahrnehmens und Miteinander-Arbeitens beschreibt: „Meine Aufgabe als Lehrerin ist es, dass du mich irgendeinmal nicht mehr brauchst.“ Für Norbert zählt Manuela Wiesler zu einer der prägendsten Persönlichkeiten seiner bisherigen Geschichte.
„Das war mein Befreiungsjahr!“
Sie ist es, die ihn ermutigt, Auslandserfahrung zu sammeln und legt ihm Göteborg ans Herz. Er bewirbt sich für einen heißt begehrten Studienplatz und ist der einzige von 60, der aufgenommen wird. „Das war mein Befreiungsjahr! Dort kannte mich niemand – das war positiv. Ich wurde nicht erkannt, als Sohn, Neffe, oder sonst Irgendjemand.“ Die Reise in die Ferne, die neue Perspektiven auf sich selbst, die Musik und die Heimat eröffnet, erweist sich rückblickend als lebenswendend.
Seine Eltern erwählten übrigens den Namen nach seinem Taufpaten, der in jungen Jahren tödlich verunglückte. Norbert ist dieser lediglich von Erzählungen vertraut. Ein junger, energiegeladener Mann muss es gewesen sein, der „mit seiner Klarinette spontan ein ganzes Wirtshaus begeistern konnte und so viel Energie in sich trug, die immer wieder mal zur Explosion kommen musste,“ so Norbert. Die Namenspatenschaft scheint keine Bürde zu sein, sondern flüstert ihm ganz sanft ins Ohr, der eigenen Spontaneität und Kraft zu vertrauen.
„Ich war ein leidenschaftlicher Lehrer!“
Zurück in Österreich beendet er erfolgreich sein Studium in Graz, gibt Musikschüler_innen Privatunterricht – eine Tätigkeit, die er seit seinem 15. Lebensjahr mit großer Freude ausübt – und bleibt für 26 Jahre teilzeitbeschäftigter Musikschullehrer im OÖ Landesmusikschulwerk. Das Lehren ist und bleibt ihm eine Leidenschaft. Das einst selbst so stille Kind entwickelt sich immer weiter und wird zum Offensiven. Für Norbert gilt: „Es ist ein lebenslanger Prozess sich zum Ausbruch zu bringen.“
Es folgt eine intensive Zeit des Musizierens. Die Geister der Vergangenheit erscheinen verscheucht, und der junge Flötist beginnt mehr und mehr die Musik förmlich „auf der Haut zu tragen“, treibt hingebungsvoll sein körperliches Spiel voran. „Balduin hat immer gesagt: ,Über das eigene Talent kommt eh ohnedies niemand hinaus.’ Balduin war ein großer Talente Förderer.“ Norbert Trawögers Blick senkt sich leicht, er wird leiser und irgendwie inniger, so, als würde er in genau diesem Moment eine Zeitreise unternehmen. Als würde er sich noch einmal dem kreativen Chaos des „Sulzer’schen Universums“ nähern, dabei auf das herzhafte Lachen Balduins warten. Die besondere Beziehung zum Komponisten Balduin Sulzer hat tiefe Spuren hinterlassen.
„Wunder und Wunde des sich Zeigens ist das Sich-verletzlich-machen.“
Für Norbert beginnt eine Zeit des Spielens und Schreibens. Dass die „Kronen Zeiten“ dabei eine Rolle spielt, vermutet man kaum. Als sein Vater Helmut Trawöger gefragt wird, ob er denn jemanden kenne, der für die „Kronen Zeitung“ schreiben möchte, fällt sein erster Gedanke auf seinen Sohn. Zunächst doch etwas nachdenklich und zögerlich, erweist es sich als ein Projekt voller gestalterischer Optionen. Denn wider Erwarten begegnet man ihm mit Sensibilität und Offenheit hinsichtlich seines Schreibprojektes, sodass er innerhalb kürzester Zeit sein ganz persönliches Profil entwickeln und eine Leser_innenschaft für sich gewinnen kann. Wie er durch Zufall zu jenem Schreibprojekt gelangt ist, so gewiss war er sich, dass er im Grunde schon immer geschrieben hat. Seither ist die schreibende Existenz nicht mehr zu trennen von der Person Norbert Trawöger. Sein Credo: „Wo man sich außerhalb der Komfortzonen bewegt, dort wächst man.“
Seine spielende, schreibende, Räume und Diskurse eröffnende Existenz findet ihre Form in unzähligen analogen und digitalen Formaten. Einen Denk- und Handlungsraum, den Kepler Salon, führte er unlängst in eine sichere Zukunft, suchte und fand die optimale Kooperationspartnerin in der Johannes Kepler Universität, die die Trägerschaft übernommen hat. Obwohl er selbst beschlossen hatte, zu gehen, ist er heute noch da, aber unter veränderten Rahmenbedingungen, die es ihm jetzt erlauben, sein ganzes Herzblut in die Entwicklung von kreativen Formaten zu stecken, ohne dabei den gesamten Apparat am Leben erhalten zu müssen.
„Warum tust du dir das an?“
Heribert Schröder, der ehemalige Künstlerische Direktor des Bruckner Orchesters Linz, bringt Norbert mit dem damals noch designierten Chefdirigenten Markus Poschner zusammen, der ihn nach kürzester Zeit bittet, sein persönlicher Referent zu werden und die Dramaturgie und Kommunikation des Bruckner Orchesters zu übernehmen. Die Verbindung der „Brüder im Geiste“ entwächst einer gemeinsamen leidenschaftlichen Suche nach zeitgenössischen und unkonventionellen Vermittlungsformen von Musik sowie neuen Interaktionsmöglichkeiten zwischen Musikproduzent_innen und Musikreziptient_innen. Ein kreativer und produktiver Clash zweier Querdenker, denen Eröffnungen neuer Öffentlichkeiten eine wahre Herzensangelegenheit ist, und Norbert schon einige Jahre später in die Position des Künstlerischen Direktors des Bruckner Orchesters befördert. Auch wenn der Blick in den Kalender oft nachdenklich stimmt. „Warum tust du dir das an? So kann ich doch nicht aus meiner Haut. Wenn ich ehrlich bin, dann war ich bereits mit 18 der, der ich heute bin. Da war etwas unkontrollierbar Zappelndes in mir grundgelegt, eigentlich auch schon als Kind. Trotz der Unzulänglichkeiten meiner Kindheit hat es mich doch ,normal’ werden lassen. Ich habe gelernt, aus den kontextuellen Brüchen meiner Biografie Kraft zu ziehen. Heute kann ich sagen, ich habe ein gutes Elternhaus gehabt,“ betont Norbert.
„Zeig dir selbst deine Wunder!“
Wenn es um die Fähigkeit des Staunens geht, beginnen seine Augen zu leuchten, weil er ganz besonders an seine zwei Töchter denkt, die ihm große Lehrmeisterinnen sind, und er sich selbst „als gelehrigen Schüler“ beschreibt: „Sie sind das Großartigste überhaupt!“ So wie seine Frau Andrea Trawöger, die ihn in ihrer wohltuenden Fähigkeit Grenzen setzen zu können, ergänzt und fordert. Die ihm eine Klarheit der Dinge eröffnet, die seine eigenen Augen gar nicht in der Lage wären, zu sehen. Er selbst beschreibt sich als „viel zu verspielt“ um für eine klare Struktur innerhalb des Trawöger’schen Familien-Kosmos sorgen zu können.
Seine Kinder eröffnen ihm neue Welten und lehren, wieder „unschuldig zu schauen. Die Sinne auf etwas zu richten, zu entdecken, zu sehen, ohne es schon im Vorhinein zu wissen, es identifizieren zu können. Es bedarf der Übung, die Hallen der Erinnerung zu aktivieren um zu sehen, wo ich andocken kann. Es braucht das reflektierende Erinnern: Sich der Kontextualität von Wissen und Ideen bewusst zu sein, um daraus schöpferisch etwas Neues zu erfinden und sich dabei selbst zu finden“, so Norbert. „Das Wundern und Staunen ist ja der erste Zustand des Mensch-Seins. Im Wunder steckt ganz viel Ermutigung.“ Wenn er hingegen an seine eigene Volksschulzeit zurückdenkt, dann ist da wenig an Erinnerung hängen geblieben, außer einer gewissen Grundstimmung der Beengtheit. „Wir sind wie ein Trichter. Anfangs ist alles möglich, dann wird alles enger. Ehrlich gesagt, es ist ganz umgekehrt. Das Engste war meine Kindheit, aber jetzt wird alles weiter. Ich arbeite so gerne und werde wohl noch mit 90 tätig sein, wenn es das Leben zulässt.“ Norberts sieben Tage Arbeitswoche erfordert Improvisationstalent und einen sorgsamen Umgang mit seinem Energiehaushalt, wobei er ehrlich gesteht: „Ich muss erst lernen nichts zu tun.“ Er schmunzelt und sogleich fällt ihm ein Purzelbaum-Training mit seinen Kindern als potentielles Lernfeld ein.
„Das Nein-Sagen muss ich erst lernen.“
Norbert liebt das Unterwegs-Sein, das Fliegen in geringen Dosen, sowie das Zugfahren, das ihm in besonderer Weise als heilsamer Zwischenraum einer bewegten Unbewegtheit gilt. Und das eigene Flötenspiel kommt wieder häufiger vor. Das alles sind große Lernprozess, die immer wieder Fragen aufwerfen, wie: „Warum tust du dir das eigentlich an?“ Seine Antwort fällt recht deutlich aus: „Weil die Begeisterung nicht weniger wird. Es ist ja alles so schön. Das Nein-Sagen muss ich erst lernen.“ Er erinnert sich noch heute an die Heftigkeit der temporären Überforderung als die Balduin Sulzer Biografie im Entstehen war: „Ich dachte, ich drehe durch! Ich habe oft gedacht, ich will nicht mehr und im nächsten Moment habe ich darüber gelacht. Uns hat viel verbunden. Das Chaos. Der Humor. Mit dem rede ich viel, auch wenn er nicht mehr da ist. Balduin war ein echter Anarchist für die Sache. Einer, der nicht die anderen auf den Kopf stellte, sondern sich selbst. Ein wunderbarer Inspirationsgeber. Ein Mensch mit Leichtigkeit im Tiefgang. Ein Beweger, der dadurch andere bewegt hat. Balduin hat mich als Mensch intensiviert.“
Die Welt braucht Querdenker wie Norbert, Menschen, die nie den Anspruch erheben, es für alle besser zu wissen, die doch keine Ruhe geben und sich die Fähigkeit sich positiv irritieren und herausfordern zu lassen, bewahren. „Wenn man denkt, ist man vielleicht selbst schon Querdenker. Denken kann man üben“, resümiert er und mir wird klar, welch hohen geistigen, künstlerischen, gesellschaftlichen Anspruch er sich zu eigen gemacht hat, mit welch Hartnäckigkeit er an seinen Überzeugungen festhält, und wie anstrengend das manchmal sein muss. Ob im Theaterbereich, an der Universität oder angesichts gewachsener Orchesterstrukturen, das Querdenken macht ihm das Leben wohl nicht einfacher und doch bleibt es ihm unumgänglich. Norbert steht auf und holt ein Buch. „Luftikusse“ lautet der Titel. Wie passend. Eine spannende Entstehungsgeschichte steckt dahinter. Eigentlich stellt es den Versuch dar, „sich selbst einmal zuhören zu können,“ so Norbert, in einem vertrauten und geliebten Raum – in der Magdalenabergkirche in Bad Schallerbach – der eigenen Leidenschaft für Improvisation folgen zu können. Ein Klangerlebnis schaffen, ohne sich einem Zweck unterwerfen zu müssen, außer Zweck an sich zu sein. „Zufall – Absichtslosigkeit – Glück“, folgt man Norbert, stellen die Ingredienzen für jenes Projekt dar, welches plötzlich größer wird als gedacht. Denn aus der Bitte an Freunde einzelne Illustrationen und Texte beizusteuern, werden 20-A4 Seiten und es heißt plötzlich: „Vergiss die CD. Jetzt müssen wir ein Buch daraus machen.“ Dem hörenden und lesenden Publikum wird etwas zugemutet, da nehme ich mich selber – mit meinen ungeschulten Ohren – gar nicht aus, aber nehme Norbert beim Wort: „Man darf niemanden unterschätzen. Man muss nicht immer Beethoven 3 spielen. Jemandem etwas Zumuten hat auch etwas mit Zutrauen zu tun.“
„Kunst kann alles, soll alles, muss alles.“
Dieses Zumuten und Zutrauen, fördern ohne zu überfordern, hinhören, ohne jemanden zu überhören, dabei charmant unbequem zu bleiben um über Grenzen zu führen, ist sein tägliches Brot. Ob seiner Arbeit etwas Seelsorgliches anhaftet interessiert mich sehr. „Es hat damit zu tun, Menschen wahrzunehmen“, so Norbert.
Was mich ziemlich umtreibt ist die Frage: „Wie schaffst du das alles?“ „Wann schläfst du eigentlich?“
Er schmunzelt: „Vor 23 Uhr gehe ich nicht schlafen und werde früh wach, so gegen 5 oder 6 Uhr morgens, manchmal hab ich bereits um 4 Uhr Energie. Und ja, ich hätte auch manchmal gerne keine Termine, besonders dann, wenn richtig viel Scheiß rennt.“ Es scheinen kurze Phasen zu sein, denn Norbert wirbelt weiter und springt mit dem nächsten Atemzug in die „Möglichkeit, durch Kunst sich selbst zu transzendieren“. „Kunst kann alles, soll alles, muss alles. Das Publikum spielt dabei eine wesentliche Rolle. Als Hörender ist man immer auch Mitspielender. Das Publikum verändert Energieläufe.“ Norbert betont die vielfältigen gewinnbringenden Elemente für das Publikum, die in Summe das „Ereignis“ Kunsterlebnis konstituieren: „Vom Lauschen der Klänge, bis zur Freude über das Ausführen des neuen Kleides, alles ist okay und gewollt,“ so Norbert.
„Das war das unerwartetste Geschenk, das ich ja bekommen habe.“
Obwohl für mich persönlich die letzte Stunde ein einziges spirituelles Erlebnis war, ich unglaublich viel erfahren durfte über Norberts tiefen Lebensglauben, so richte ich dennoch ganz bewusst die Frage an ihn, ob er sich selbst als spirituellen Menschen verstehe. „Unbedingt“, so Norbert, und erzählt mir von seiner Kindheit im katholischen Milieu, von prägenden Gestalten und seinem Heimatpfarrer, der ihm stets auf Augenhöhe begegnete und so den Anspruch eines Seelsorgers mehr als erfüllte. Norbert ist leidenschaftlicher Kirchgänger, unregelmäßiger Messgeher, entwickelt gerne seine eigenen Rituale und fühlt sich auf „ganz persönliche und eigene Art einem Gott gegenüber nah. Es ist wie mit der Musik. Wir spüren etwas ganz intensiv, obwohl es nicht gleich sichtbar ist.“ Dass jegliche Institutionen Gefahr laufen, Macht an sich zu reißen, und dabei ihre Dienstfunktion für den Menschen aus dem Blick gerät, ist immanent. „In der Institution Kirche – wie in vielen anderen Institutionen – wollen zu Viele Macht und Besitz, leben unbekümmert in ihren Palais und glauben, Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Das habe ich immer verdächtigt.“ Er erzählt mir von einem ganz persönlichen Ritual, das ihn begleitet, wenn es viel Mut und Vertrauen für den nächsten Schritt braucht. Es waren kurze und innige Begegnungen zwischen ihm und einem Konzertbesucher, der Norbert Jahre später ein ganz besonderes Andenken bescheren sollte. Nach dessen Tod steht plötzlich eine Dame mit einer roten Schatulle in der Hand vor seiner Tür. Es ist die Nachlassverwalterin jenes Mannes, in dessen Leben die Musik wohl eine ganz besondere Rolle gespielt haben musste, die spürte, dass diese Schatulle in den Besitz von Norbert übergehen müsse. Sie beinhaltete zwei alte Stimmgabeln. Eine, des verstorbenen Konzertbesuchers, die andere, die seines in Stalingrad gefallenen Vaters. Zwei Objekte materialisierter Familiengeschichte, die heute Norberts eigene Geschichte vorantreiben und ihn begleiten, wenn er um Vertrauen und um den richtigen Klang, um das Einstimmen-Können, das Andocken Können an die kollektive Energie, bittet. „Das war das unerwartetste Geschenk, das ich ja bekommen habe. Ich habe das Gefühl, wenn eine dabei ist, dann geht es gut“, so Norbert. Nicht nur angesichts ganz großer Herausforderungen bedarf es an Selbst-Vertrauen, sondern kurz vor dem Betreten jeglicher Bühne, folgt er seinem persönlichen Ritual des Sich-Einstimmens. „Das dauert oft nur einen Bruchteil von Sekunden, aber dann bin ich ganz präsent.“
„Ohne ein Du bin ich verloren.“
Sein ganz persönlicher Glaubenssatz lautet: „Leben bedeutet tägliche Veränderung. Leben erfordert, sich selbst und sein Gegenüber ernst zu nehmen, das Gegenteil zu behaupten wäre kompletter Quatsch. Man braucht ein Du, denn das bringt einen erst in Resonanz. Ich gehe ja auch nicht ins Büro, um dort alleine zu sitzen. Ich will angefragt werden und das ist wunderschön. Ich will mich hinsetzen und meine Form finden. Sprache finden, für das, was mich bewegt und vorantreibt. Ich will staunen über ein Du. Ohne ein Du bin ich verloren. Und tun, tun, tun. Ich bin kein Macher, ich bin ein Tuer.“ Norbert beschreibt sich selbst als disziplinierten Menschen und empfindet „tiefe Verantwortung für ein Kollektiv“ und Dankbarkeit für sein Dasein. „Wir leben wie im Paradies und das bringt eine verdammte Verantwortung mit sich. Ich verdiene genug. Meine Kinder sind gesund. Die Gesellschaft hat viele Schwierigkeiten. Wir müssen lernen das Du ernst zu nehmen, das uns entgegentritt, ohne, dass dieses Gegenüber ,weiß’ und ,Mann’ wäre,“ bekräftigt Norbert.
„In die Gruam springa tua i nu söba.“
So geht denn unser Gespräch in die letzte Phase über und Balduin Sulzer betritt erneut den Raum. Als weisen und humorigen Mensch, mit einer großen Gabe durch sein Lachen Räume der Begegnung zu eröffnen, beschreibt Norbert seinen Wegbegleiter, dessen „humorvolle Oberfläche auch eine Schutzfunktion für ihn hatte“ und betont die innige Verbindung zweier Männer, die sich selbst angesichts der eigenen Sterblichkeit zu ähneln scheinen. „In die Gruam springa tua i nu söbe“ zitiert Norbert Balduins unbändigen Willen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, und dies bis zum Schluss. „Was ist das für eine Haltung! Was für eine Disziplin! Das ist mir sehr nahe und entspricht meinem eigenen Anspruch an das Leben: Gestalten, probieren, bis zum Schluss. Welch Wunder, den letzten Sprung noch selber zu schaffen,” so Norbert. Der Balduin „spirit“ ist Norbert auch heute noch gegenwärtig und spürbar: „Welch ein Privileg solch einem Menschen nahe zu sein“, resümiert Norbert sichtlich dankbar.
Norbert in der Schnellantworterunde:
Wann hüpft dein Herz?
„Wenn ich lache. Bei dieser Frage.“
Was ist dir heilig?
„Mensch-Sein“
Gibt es Grund zu hoffen?
„Immer! Es bleibt uns auch gar nichts anderes übrig, das entspannt.“
Wann weinst du?
„Bei Bruckner Symphonien, bei unerwarteten Träumen. Immer wenn mein Innerstes getroffen wird. Das ist eine Art zu weinen. Bei Balduins Tod: Weinen aus Traurigkeit.“
Welcher Klang ist dein liebster?
„Da gibt es so viele davon. Die Stimmen meiner Kinder.
Meine Güte, es gibt so viele: Jeder Klang, jede Stimme, die mich berührt: Die Straßenmusikerin, Geräusche, Orchester, Kinder, Gesänge.“
Was entwaffnet dich?
„Einerseits immer im Zustand des Staunens, und andererseits, wenn ich mutlos werde. Wenn Menschen nur vorgeben Raum zu geben und ihn letztendlich für sich beanspruchen. Wenn Räume abgeschnitten werden, Dialog verhindert wird. Populisten schotten sich von einem Du, einem Gegenüber ab, verhindern Begegnung. Beim Gefühl ausgeliefert zu sein. Wenn es eng wird.“
Ist dir schon einmal ein Wunder begegnet?
„Ja. Viele.“
Wunder, was ist das?
„Ein unerwartetes Ereignis an sich, das nicht unvorbereitet ist.
Etwas, das Gestalt annimmt, wo man sich etwas wünscht. Etwas, das ich zwar nicht gesucht habe, und es doch gesucht habe. Es findet häufiger statt, als wir denken. Man muss nur wach sein im Rauschen des Alltages. Es bemerken und staunen. Das Bedarf an Disziplin.“
Wir verabschieden uns. Ich bin unendlich dankbar. Bilder habe ich im Kopf. Viele davon sind zerstreut, durchgewirbelt und neu zusammengesetzt worden. Doch sie alle erzählen vom Mut.
Ein Bild, das für mich bleibt und trägt: Ich durfte in ein paar Herzenskammern eines Menschen schauen, der für mich den Person gewordenen Aufruf darstellt, die eigenen Dunkelkammern auszuleuchten, den Wundern und Wunden des Lebens unaufhörlich auf der Spur zu bleiben. Keine Angst vor dem eigenen Feuer zu haben. Quer stellen, wenn die Welt Kopf steht. Offen sein, für den Klang und die Stille. Für das Wort und die Tat. Mystik und Engagement. Leben als pulsierenden Resonanzkörper entdecken. Im Stolpern stets Ausschau nach Neuschöpfung halten. Sich Bühnen erobern und anderen Bühnen bereiten. Was für eine Haltung!
Ich bedanke mich bei Norbert Trawöger für dieses wunderbare Gespräch.