Heiliger Boden
Kennst du das, wenn Zwischenräume plötzlich ganz eng werden? Wenn sich Menschen oder Dinge begegnen und sich ganz unverhofft etwas ereignet? Etwas, das sich kaum in Sprache bringen lässt, da es neu und anders und ungeplant hereindrängt in das Leben und vieles auf den Kopf stellt. Wenn es kribbelt in der Magengegend und es wohlig warm wird in Kopf und Herz. Wenn ein Moment richtig wichtig zu sein erscheint. Wunder hinterlassen so gerne ihre Spuren mitten im Alltag.
Es ist schon einige Jahre her. Ich hatte einen Student_innenjob etwas außerhalb der Stadt. Ich durfte bei einem sehr netten Pärchen die Wohnung saubermachen. Ich war gerne bei ihnen. Wie aufmerksam mich ihre Katze bei jedem Handgriff beobachtete. Sie ließ sich ungern von mir in ihrer Mittagspause stören. Als ich an diesem Tag das Haus verlassen hatte und bei der Bushaltestelle saß, fiel mir ein sehr alter und sehr gebrechlicher Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf. Die Straße war stark befahren und es führte kein Schutzweg über diese. Der Mann sah zu mir rüber. Er blickte gebannt zur Bushaltestelle. Blickte er etwa mich an? Er begann seine Schritte zu beschleunigen, blickte rechts und links, setzte einen Fuß vor den anderen, sichtlich schwer fiel es ihm. Die Autos fuhren indessen unaufhörlich weiter. Sie nahmen keine Notiz von dem alten Mann, der ansetzte, die Straße zu überqueren. Ich spürte den Impuls, aufzuspringen um mich mitten auf die Straße zu stellen, um ganz laut zu schreien:
„Halt! Stopp! Seht ihr denn nicht?“
Doch ich war zu langsam. Der Mann schaffte es in einem günstigen Augenblick die Straße zu passieren und ging in langsamen aber mit sehr zielsicheren Schritten auf mich zu. Er kam näher und blickte mich mit großen, gläsernen, ja, zärtlichen Augen an. Ich stand auf. Er war mir ganz nah und sagte: „Ich dachte, da drüben sitze wirklich meine Frau. Sie ist tot. Ich dachte, Sie wären meine Frau. Ich dachte, es geschehen doch Wunder.“ Er lächelte mich an und ich lächelte zurück. Er zeigte mir das Bild seiner Frau, welches er in seiner Brieftasche bei sich trug. Er musste es wohl schon oft hervorgeholt haben, so weich und brüchig wie es aussah. Wir warteten gemeinsam auf den nächsten Bus. Wir fuhren gemeinsam ein Stück des Weges. Er erzählte mir von seinem Leben, seinem mittlerweile erwachsenen Sohn, seiner Liebe zur Musik und von seiner Frau. Ich musste aussteigen. Wir verabschiedeten uns. Ich habe den Mann nie mehr wiedergesehen.
Ein Gedanke machte sich breit: Es gibt sie doch! Direkt vor meiner Nasenspitze: die kleinen, großen Wunder. Was dieses Wort doch auszudrücken vermag. Welche Hoffnungen und Wünsche, Sehnsüchte und Begehrnisse dieses Wort zum Schwingen bringt. Dem, was wundert und verwundet, uns wunderlich, wundervoll zurücklässt, letztendlich in offenes Staunen versetzt, dem möchte ich gerne auf die Spur kommen. Und eins hefte ich mir auf die Fersen: Wundersames flüstert häufig und so du auf es triffst, potenziert es die Fragen im Raum, mehr als es laut Antworten zu geben wüsste. Ich spiele gerne mit Fragezeichen und heiligen Böden.
Ich wünsche auch dir ganz viele einzigartige Momente.
Jeden Tag mindestens einen davon.