Ein Abendspaziergang
Die Lichter hinter den Schaufenstern sind an. Es ist ruhig auf den Straßen. Autos ziehen vorbei. Wir marschieren am Theater in der Innenstadt vorbei und biegen ab. Es ist dunkel. Ein paar Schneeflocken verirren sich hinter meinen Brillengläsern. Wir passieren das Nordico mit seinen schönen blau geschwungenen Sitzgelegenheiten, neben den neuen Graffitis, der kleinen Hängematte unter dem mächtigen Baum. Das OK ist erleuchtet. Heute sind neben der Straße keine Skateboarder zu sehen. Es ist zu kalt. Der Turm über den Dächern des OK ist hell erleuchtet. Ich fühle noch das leichte Schwanken in meinem Körper vom letzten Besteigen des höchsten Punktes. Er zieht meine Blicke auf sich. Das filigrane Schiff ist zu sehen. Ein leuchtendes Konstrukt, das auf seiner Fahrt über den Horizont irgendwie hängengeblieben zu sein scheint, und nun zwischen den hölzernen Stockwerken des Turmes feststeckt. Oder steuert er geradewegs darauf zu? Ich versuche mich zu erinnern. Ob ich den Namen noch weiß. Alexander Ponomarev, sage ich zu meinem Sohn und schon reisen wir gedanklich zurück in vergangene Sommermonate, ja, sogar in vergangene Jahre. „Kannst du dich erinnern?“ frag ich das Kind und zeige nach oben in Richtung Parkdeck. Sogleich nennt er mir seine liebste Installation: „das Seil“. Es gefiel ihm, hoch oben zu klettern, spielen zu dürfen – mit Kunst. Sich seinen Weg bahnen zu dürfen durch ein blaues Gewebe aus festen Schnüren, wo man sich so schön ein Nest einrichten konnte. Es gefiel ihm. Mir auch. Wir liebten auch die Hängematten letzten Sommer und die mit roten Wollfäden umwickelten Metallbote von Chiharu Shiota. Was war das für ein Anblick. Vom Boden bis zur Decke. Ein einziges Staunen. Genauso wie die grüne Stoffblase von Te-Yu Wang, die einen ganzen Raum ausfüllte. Ich machte große Schritte und trieb gedanklich eine luftgefüllte Blase vor mir her. Mein Sohn rügte mich, denn so mache man das nicht. In ganz kleinen Schritte müsse man gehen. Denn Kunst solle nicht anstrengend sein! Das interessierte mich doch sehr, warum sie nicht anstrengen sollte. „Ja, weil man genug Kraft braucht, um sich noch die anderen Sachen anzuschauen“, so das Kind. Aber was denn dann die Aufgabe von Kunst sei, wenn sie denn nicht anstrengend sein solle, wollte ich etwas genauer wissen und bat ihn um seine Definition. „Kunst soll Wunder wirken.“ Ich musste schmunzeln. Ja, Kunst wirkt Wunder. Das wird wohl so sein. Ich mag es, dass er diese zwei Wörter selbstverständlich in den Mund nehmen kann. Darüber denke ich gerne weiter nach. Über Wort-Schätze, Frei- und Spielräume, über Wandlung und wer oder was für Überraschungen sorgt. Über Eruption und Irritation und dem Lächeln mittendrin. Über Verlustiges. Über das Fehlen von Möglichkeitsräumen. Oder mein Übersehen. Über die Grenzen meines Wissens und Könnens, über den Wert der Intuition und über kindliches Staunen. – Wäre ich je ohne ihn durch das Seil gekrabbelt? – Über das Beginnen. Und welche Gebärden heute von Nöten sind, um zu demonstrieren: gemeinsam und Schritt für Schritt muss es geh. Wenn wir nur wirklich wollen, dass niemand auf der Strecke bleibt. Das sind kleine große Schritte, und diese können nicht die Anstrengung ein paar weniger sein, denen sichtlich die Puste auszugehen droht, denen die Möglichkeit genommen wird, das Kommende, das Schöne, den Reichtum noch zu sehen. Wo sollte ich denn anfangen, wenn nicht bei mir selbst? Darüber MUSS ich nachdenken, und wie ein Wort zum Schritt wird.
Wunder warten. Sind geduldig. Wunder machen sich frei von Zugriffen. Doch wollen Wunder auch hervorgebracht werden. Wollen erfahren und gestaltet und verkörpert werden. Damit ganz viele wieder und wieder daran erinnert werden, welch verletzliches und gleichsam spielerisches Kind in uns allen schlummert. Ein nackter Körper hinter all den Masken und Schichten. Unter den unzähligen Gewohnheiten und dem Eingeübten. Es muss sie geben: Die Spielräume, in denen die Fragen fraglich werden. Und letztendlich man sich selbst. Begegnet. Man sich das Fragen zutraut und ermutigt wird Dinge zu tun, und Worte zu gebrauchen, die jenseits von Nützlichkeit und Zweckgebundenheit sich ereignen dürfen. Die nichts weiter und doch alles sind. Handreichungen, die einem die Binde von den Augen nehmen und hineinführen in den hintersten Winkel: Sieh, welch Wunder Du doch bist. Meine Nächste ist es auch. Sie will leben, so wie ich.
Ohne je kompetent über Kunst reden zu können, wage ich es meiner Intuition zu folgen, dass es sie braucht: die Empörung, die Zumutung, das Nicht-Verstehen, das Wagnis, die Irritation, das Schöne und das Spiel, sowie die Zärtlichkeit in all ihren Formen, Sprachen und Konstellationen. Kein Angriff und kein Übergriff, sondern Inbegriff von Rührung. Führt dies denn nicht alles zu einer inneren Bewegung? Hin zu einem Verstehen-Wollen seiner selbst und seines Gegenübers? Vielleicht kann sich Kunst (auch) in ganz zarte und leichte Bahnen legen, um im Moment der Berührung Hüllen fallen zu lassen. Mich auf Ver-Wandlung einzulassen ist nicht leicht, aber geboten, so ich mich der Offenheit von (meiner) Geschichte und den Fragen nach einem guten Leben für alle stellen will. Ob Kunst und dem Wunder nicht doch ein Anstrengungsmoment immanent ist, das lasse ich mal offen.