Aus.Halten
Diese Woche ist mein Sohn vom Klettergerüst gefallen und hat sich den Arm verstaucht. Der Aufprall auf dem harten Boden und das Spüren des eigenen Körpergewichtes muss ziemlich schmerzhaft gewesen sein, sodass ihm Tränen übers Gesicht kullerten. Außenstehende deuteten das Weinen zunächst als Lachen und so war er für einen flüchtigen Moment sich selbst überlassen, bis er versorgt und umsorgt wurde. Dieser kurze Moment gab ihm zu denken, sodass er mir abends gestand, er hätte getröstet werden wollen. Ich wollte gerne von ihm wissen, was er gebraucht hätte und was dies für ihn bedeute. Wir redeten und ich bekam wohl die trefflichste und schönste Definition, die ich mir sehr zu Herzen nehme.
Kind: „Weißt du, ich hätte mir gewünscht, dass jemand da ist, dass ein Freund nachfragt, wie es mir geht, ob ich etwa bauche, oder so... Trösten heißt für mich, jemanden zu haben, der hilft, den Moment zu überstehen.“ Ich staunte nicht schlecht. Ich war einfach still, denn es gab dem nichts hinzuzufügen. Ich küsste ihn und sagte ihm, dass ich ihm nichts sehnlicher für sein Leben wünsche, als von Menschen mit solch weisen Herzen umgeben zu sein.
Er ließ mich sehr nachdenklich werden. Unweigerlich kamen Erinnerungsbilder in mir hoch. Sie versetzen mich in eine Situation, in der ich als Trösterin sehr gebraucht gewesen wäre. Ja, ich erinnere mich leibhaftig daran, als ich mich damals fieberhaft darauf vorbereitet hatte etwas Heilsames, Lebenswendendes – ja, so dramatisch war es tatsächlich – zu sagen. Und ich: Ich zitierte. Heute weiß ich gar nicht mehr, wen oder was ich damals als dermaßen klug empfunden hatte, als dass es für diesen einen Menschen lebensrettend hätte sein können. Ich war überzeugt, die besonders Klugen hätten Worte gefunden, die Leben retten, am Leben erhalten, Leben wenden. So dachte ich. Ich erinnere mich noch an diesen flehenden, erwartungsvollen Blick, die leeren, großen Augen, die zugleich offen erschienen das Eine aufzusaugen, was Hoffnung gibt. Da stand ich nun, mit meinem Zitat. Vorbereitet war ich. Hoffte selbst und wusste doch: Das kann so nicht gehen.
Heute zitiere ich - in vergleichbaren Situationen - nur mehr, wenn es von Herzen kommt. Wenn ich Worte von weisen und kluge Menschen verinnerlicht habe – und manchmal bin ich dankbar, mir Worte leihen zu dürfen, wenn es mir die Sprache verschlägt –, und diese nicht mehr über Trost sprechen, sondern Trost bewirken. Dafür braucht es so viel mehr und im Grunde ganz wenig.
Auch wenn ich gerne die „richtigen“ Worte, die aufrichtigen und ehrlichen von ihnen hätte, möglicherweise braucht es sie nicht – sofort. Möglicherweise braucht es die Zuwendung zum einen Moment, der nackt und verletzlich vor einem liegt, der konfrontiert mit der eigenen Ohnmacht, es nicht für den Anderen tun zu können, der drängt, nicht Wegzusehen, sondern Hinzuschauen, Dazubleiben und Mitzufühlen. Manchmal braucht es ein Mehr an leeren Händen und stillen Gebärden, als eine Fülle von Worten. Das ist nicht weniger als es mehr ist. Das könnte helfen, den Moment zu überstehen.