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Wenn im Loslassen neues Leben entsteht

Wenn im Loslassen neues Leben entsteht

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Heute bin ich an einem Ort, an dem das Echo der Stille hörbar wird. Eine Stille, die einen Raum zu füllen weiß, ohne einen verängstigt zurückzulassen. Diese Zeiten erfordern wohl besonders behutsame Worte und Gesten, wenn wir vom Abschied-Nehmen-Müssen sprechen und handeln. Den zärtlichen Versuchen zweier Menschen, die täglich das Loslassen vor Augen haben, darf ich heute aufmerksam lauschen. Ich darf mit dem Ehepaar Julia und Martin Dobretsberger vom Bestattungsunternehmen Dobretsberger ein Gespräch über das Leben und den Tod führen. Ein Leben, das mit dem ersten Atemzug vom Abschied flüstert, wodurch doch jeder Schritt erst seine Kostbarkeit erhält. Wenn Sie nun neugierig geworden sind, auf das Nachdenken von Julia und Martin Dobretsberger über das Leben und die Liebe, über das Abschiednehmen in besonders verletzlichen Zeiten, dann lade ich Sie ein, weiterzulesen.

Ich betrete die Räumlichkeiten des Kompetenzzentrums für Abschied und Trauerbegleitung in der Muldenstraße zum ersten Mal. Schon der Name „Kompetenzzentrum“ lässt erahnen, dass es hier um mehr geht, als man zu erwarten meint. An der Außenwand hängen Parten. Ich lasse meinen Blick über die Glasscheibe schweifen. Es sind viele Parten. Sie zeigen junge und recht alte Menschen. Martin wird mir später davon erzählen. Von der Gewichtigkeit dieses Stückes Papier, das in einem Augenblick Beziehungs-Konstellationen abbildet und immer mehr sei als eine Einladung, ähnlich einer Einladung zu einem Geburtstagsfest. Welch Fingerspitzengefühl, ja, grundsätzlich, welch feine Sinne es benötigt, um genau diese Nuancen zu hören, das Räuspern, das Zwischen-den-Zeilen Lauschen, das Unausgesprochene hinter dem Vordergründigen, das dennoch drängt, vor den Vorhang geholt zu werden.

Julia begrüßt mich freundlich am Eingang und bittet mich an einen großen Tisch in einem weitläufigen, lichtdurchfluteten Raum. Martin Dobretsberger stößt ein paar Minuten später dazu. Für das Ehepaar ist es eine herausfordernde Zeit, denn Martin ist einerseits Inhaber des eigenen Unternehmens und andererseits Landesinnungsmeister der Bestatter*innen. Doch die Anfragen rund um das Thema Bestattungen in Zeiten von Corona beschränken sich nicht auf den oberösterreichischen Raum. Als studierter Jurist ist seine Expertise gefragter denn je. Den großen Verunsicherungen und Herausforderungen begegnet das Ehepaar mit einer Ruhe in der Sprache und im Auftreten, die mich staunen lässt. Schon nach kurzer Zeit wird mir bewusst, mit welch anderweitigen Herausforderungen das Ehepaar zu kämpfen hat.

„Der Tod ist keine Handelsware“ (Julia)

Die landläufigen Ideen und Vorstellungen der Menschen spiegeln meist nicht die Realität von Bestatter*innen wieder. „Viele Menschen, die auch mitternächtlich wegen einer Frage anrufen, haben das Bild eines einsamen Menschen vor Augen, der nur darauf wartet, dass ihn jemand anruft. Das Spannende ist, man wird als Bestatter meist mit einer Institution gleichgesetzt, die es fraglos gibt, jedoch nicht als konkrete Person gesehen“, so Martin Dobretsberger. Nicht nur Projektionen sind es, die zu Herzen gehen, sondern insbesondere „ein morbider Schmäh“, mit dem ihnen begegnet wird: Sprüche wie „Ein todsicheres Geschäft“, oder: „Gestorben wird immer“, versetzen den beiden jedes Mal einen Stich, als “würden wir uns nicht bemühen müssen“, so Julia. „Doch der Tod ist keine Handelsware und unser Arbeit nicht auf eine rein vertragliche Beziehung zwischen Menschen zu reduzieren. Wir wahren professionelle Nähe zu den Menschen und begleiten sie in ihrer Trauer“, betont Julia mit Nachdruck, wie auch Martin unterstreicht: „Geld kann dir diese Energie, die du mit Leib und Seele gibst, nie ersetzen.“
Dass sich hinter der Maske wie hinter der „Institution“ konkrete Menschen verbergen, die fühlen, lieben, lachen, verletzlich und berührbar sind, die nicht einem Beruf, sondern einer Berufung folgen, die 24 Stunden erreichbar sind, die enorme Bereitschaft zeigen, Menschen inmitten des Verlustes und der Trauer eine Stütze zu sein, die Sprachrohr für Unaussprechliches sind, die dem Tod seine Bedeutung für das Leben und über dieses hinaus zu geben versuchen, dies darf ich fragmenthaft zu zeigen versuchen.

„Alles was ich bisher gemacht habe, habe ich aus Leidenschaft getan.“ (Martin)

Martin Dobretsberger, aufgewachsen mit fünf Geschwistern, ist schon früh in Berührung gekommen mit dem Thema Abschiednehmen. Doch wie er mir erzählt, wurde im Familienverband nicht besonders häufig über Tod und Trauer gesprochen. Seine Biografie ist so etappenreich wie es seine vielfältigen Leidenschaften sind. So führt ihn sein Weg zunächst vom Maschinenbau, über die Tätigkeit als Rettungsfahrer bis hin zum Jusstudium. „Alles was ich bisher gemacht habe, ob Spiele und Rituale für die katholische Jungschar vorzubereiten oder mich in der Kunst der Kaligraphie zu üben, habe ich mit Leidenschaft getan“, erzählt Martin strahlend. Es ist ein Maßstab, den er auch bei seinen Mitarbeiter*innen anlegt, wenn es darum geht „Persönlichkeiten mit Begabungen, Hausverstand und Gespür zu finden. Und Hausverstand ist nicht zertifizierbar und Einfühlungsvermögen nicht quantifizierbar“, so Martin und Julia einstimmig. Er selbst beschreibt sich als: „Christlich sozialisiert, bedürfnisorientiert, an Philosophie interessiert, gepaart mit einem Hang zur Technik, die helfen soll, Abläufe effizienter zu gestalten, damit mehr Zeit für die Menschen bleibt.“ Bevor er sich jedoch dafür entschied, den elterlichen Betrieb zu übernehmen, schnupperte er zunächst eineinhalb Jahre Firmenluft an der Seite seines Vaters. Martin beschreibt diese Zeit als sehr harmonisch, und Abgrenzungsprozesse hätten sich erst in der Phase des selbstständigen Gestalten-Dürfens und Umstrukturierens entwickelt.

Julia, ihrem Grundberuf nach Polizistin, Ehefrau und Mutter von zwei Kindern, hat sich nach einer Phase der intensiven Reflexion dafür entschieden, in den Familienbetrieb einzusteigen, mitsamt der Ausbildung zur Bestatterin - die sie bereits ganz ausgezeichnet abgeschlossen hat - und zur Trauerbegleiterin. Wie für ihren Ehemann, so empfindet es auch Julia nicht als Beruf unter anderen, sondern als einen Dienst am Menschen, mit Leib und Seele und aus tiefster Überzeugung. Und daran möchte sie auch ihre eigenen Kinder teilhaben lassen, und nicht aussparen, mit ihnen im Gespräch zu bleiben über das Staunen ob der Kostbarkeit des Lebens, die die Endlichkeit miteinschließt. Ich bewundere den Mut dieser jungen Frau, die als Polizistin gelernt hat, aktiv einzugreifen, zu schützen, und sie sich nun im Stil der „passiven Aktivität“, wie Julia es nennt, übt. Es benötigt wohl ein hohes Maß an Sensibilität und eigener Verwurzelung, um die Tränen anderer aushalten zu können, ein Bewusstsein dafür, den Schmerz des Verlustes nicht nehmen zu können, jedoch ihn im Da-Sein ein Stück Mit-tragen und Mit-fühlen zu können. Julia ist im Begriff, sich selbst und ihre Rolle zu finden, und legt gegenwärtig den Fokus darauf, Menschen eine Stütze zu sein im Finden der persönlichen, symbolisch wie materiellen Formen und Gesten, die einen Abschied begleiten können. Im Mut-machen, die persönliche Trauer – besonders um seiner selbst willen – zulassen zu lernen. Sich annehmen zu lernen in der eigenen Schwäche. Besonders im Umgang mit Kindern ist den beiden sehr wichtig zu betonen, dass auch diesen ein Recht auf klare Sprache und ein aktives Verabschieden-Dürfen zukommt. Wenn auch die Verunsicherung groß erscheint, wie ihnen angesichts von Tod und Trauer begegnet werden könne, so legt das Ehepaar Dobretsberger Eltern ganz besonders ans Herz: „Kinder nicht auszuklammern in der Trauer und sie aktiv zu fragen, ob und wie sie sich verabschieden möchten.“

So sehr sie Kindern eine aktive Rolle im Verabschiedungsgeschehen zugestehen möchten, so sehr legen sie ein Augenmerk auf die Etablierung einer würdevollen Verabschiedungskultur in Alten-, Pflege- und Senior*innenheimen. Für Martin Dobretsberger bedeutet Abschiednehmen immer, der Wertschätzung einem Menschen gegenüber Ausdruck zu verleihen. „Menschen leben oft jahrelang Tür an Tür. Und plötzlich steht von einem auf den anderen Tag das Zimmer leer... Wir versuchen mit aller Kraft ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es Verabschiedungsrituale mitten im Alltag geben muss“.

„Nicht nur Wünsche erfüllen, sondern Bedürfnisse stillen“ (Martin)

Für Martin Dobretsberger ist der Sarg Ausdruck individueller Ästhetik und Vorlieben, aber letztendlich „ein Produkt“, wie er betont. Das Andenkenbild ist mehr als das schwarz auf weiß Gedruckte und das Gestalten einer Parte ein komplexes Unterfangen. Denn „wie bilde ich ein Familiensystem ab? Wie stelle ich eine Patchwork-Familie als Einheit dar? In einer Parte materialisiert sich so viel“. Es gehe sowohl um Symbolik als auch um Material, und so banal es für einen Außenstehenden scheinen kann, so unveränderlich verweisen die äußerlichen Elemente an diesem Punkt, am Lebensende, auf das ganze Leben, das besonders im Dazwischen erklingt und für die Abschiedsfeier als „das lebendige Element“ eine zentrale Rolle spielt, da hier immer noch sehr viel bewirkt werden könne. So ist es Martin wichtig, darauf hinzuweisen, dass Bestatter*innen „nicht nur Wünsche erfüllen, sondern Bedürfnisse stillen“, und es während der gemeinsamen Vorbereitung und Reflexion immer wieder zu Horizonterweiterungen kommen kann, wenn jenseits chronologischer Daten die Frage in den Raum gestellt wird, was wirklich berührt hat an einem Angehörigen. Denn in erster Linie gehe es nicht darum, einen Lebenslauf zu verlesen, sondern zu zeigen, wer diese Person war, was sie auszeichnete, ohne „die Ecken und Kanten, das, was als schwierig und herausfordernd erlebt wurde, aussparen zu müssen“, so Martin.

Martin zeigt mir den Stichwortzettel für seine nächste Trauerrede, denn mehr brauche er nicht mehr, um die richtigen Worte zu finden, damit Offensichtliches und das Dazwischenliegende einen Platz innerhalb einer Feier finden können. Martin Dobretsberger besitzt die Gabe, Geschichten zu erzählen, die berühren, weil sie im Moment, im konkreten hier und jetzt entstehen und die Gemeinschaft in einem jeweils individuellen Rahmen anzusprechen vermögen. Für eine Ansprache brauche es immer die leibliche Anwesenheit von Menschen, ein Einbeziehen konkreter Gegebenheiten wie das Wetter, die Atmosphäre, die zentrale Elemente einer lebendigen und authentischen Verabschiedung sind.

Über die Jahre hat er sich ein ganzes Repertoire an Geschichten rund um Tod, Trauer, Abschied und über die Liebe, die bleibt, angeeignet, denn unbestreitbar stellt es eine Entlastung dar, nicht immer alles neu erfinden zu müssen.

„Ich halte dich aus. Ich gehe mit dir ein Stück. Ich höre dir zu.“ (Julia)

Julia Dobretsberger sieht sich selbst als „eine Begleiterin auf Zeit, die die Stille auszuhalten vermag“, und betont die wohltuende Wirkung der intensiven Vorbereitungsgespräche, die meist um die zwei Stunden dauern. Für Julia beinhaltet gute Begleitung: „Sicherheit, Vertrauen und Zeit. Denn der Tod ist die größte Verunsicherung. In diesem Moment Stabilität bieten zu können, die mitteilt: ,Ich halte dich aus. Ich gehe mit dir ein Stück. Ich höre dir zu`, ist ganz wesentlich im Kontakt mit Angehörigen“, betont Julia. Für Martin bedeutet der Verabschiedungsprozess ein sich Einfühlen und eine Bestärkung: Denn „Trauer ist Liebe, deren Ausdrucksform wir nicht kennen.“ Für Julia ist das Unterstützen, die Begleitung und das sich neue Zurechtfinden-Müssen im Alltag nicht am Tag der Verabschiedung zu Ende. Häufig führen die Wege von Angehörigen noch Wochen später, oder speziell am Jahrestag zu ihnen und hinterlassen auf beiden Seiten Spuren tiefer Dankbarkeit. Martin Dobretsberger bringt es auf den Punkt: „Man kann nicht verlieren, denn man hat schon verloren. Der Gewinn in solch einer Situation ist stets die gegenseitige Wertschätzung und Dankbarkeit.“ Aus dieser Erfahrung, Menschen über das unmittelbare Begräbnis hinaus begleiten zu wollen, entstanden auch die Ideen, Erinnerungsbücher anzubieten, eine Trauerbibliothek einzurichten, ein Trauer-Café zu initiieren, oder einen speziellen Adventkalender für Trauernde zu gestalten.

„Ich hadere besonders, wenn junge Menschen sterben.“ (Julia)

Auf meine Frage nach der je eigenen Spiritualität der beiden, antwortet mir Julia lächelnd: „Ich bewundere Martin ob seiner Verwurzelung und seiner Erdung. Er ist wie eine alte Eiche“. Ich fühle mich beschenkt, als ich bemerke, wie sich dieses Gespräch mehr und mehr zum Dialog zwischen einem sich liebenden Paar entwickelt. Welch Wunder eines geteilten Augenblickes. Julia fährt fort: „Ich wünsche mir das auch. Ich hadere besonders, wenn junge Menschen sterben. Und Spiritualität... Ich wäre gerne spiritueller. Fragen nach dem wieso, weshalb, warum beschäftigen mich sehr. Ich würde mir dahingehend auch mehr Heimat in der Kirche wünschen. Aber die provoziert mich manchmal so viel in ihren Themen, in ihrer Haltung. Dabei wünsche ich mir Zuflucht, Halt und Heimat von ihr“, gesteht sie und betont gleichzeitig, wie wundervoll sie es empfindet, dass ihr Mann eine ganz andere Seite von Kirche kennengelernt hat, nämlich eine, die ihm einen Geschmack für das Gute und Schöne, für das Erbauende und Stärkende mit auf den Weg gegeben hat.

Sehr gefreut habe ich mich, als ich Julia schon vor etwas längerer Zeit dabei beobachten durfte, wie sie als Domfrau aufbrach, ihren Platz im Raum, im Mariendom in Linz, zu finden. Sie war eine von 30 Frauen, die sich auf die Suche nach ihrer Geschichte mit diesem Raum machte um diese Geschichte an zahlreiche Besucher*innen weiterzugeben. Noch heute denke ich gerne an diesen von Frauen erfüllten Kirchenraum zurück, der den Hörenden den Mut auf den Weg gab, sich im eigenen Suchprozess anzuerkennen und aufzubrechen, den je eigenen Punkt im Raum zu erobern, der einem existenziell etwas zu sagen hat. (Julias persönliche Geschichte finden Sie hier zum Nachlesen)

Julia Dobretsberger mit ihrem Domfrauen-Hut, Bild: Tessi Lehner

„Gott ist die Gesamtheit der Liebe und reine Positivität“ (Martin)

Das Ringen mit den eigenen Wurzeln und Herkünften, wie das Suchen nach einem Platz, an dem man mit allem, was einen ausmacht, sein kann, das versucht das Ehepaar Dobretsberger weiterzugeben, wenn sie behutsam Menschen Hoffnung mit auf den Weg zu geben suchen. Diese Hoffnung kann wohl nur erzählt und erfahrbar gemacht werden, wenn die je persönliche Spiritualität durchscheinen darf. So ist es für Martin der Geist Gottes, der sich in der Erfahrung unbedingter Liebe materialisiert. Einer Liebe, die vernarbte Herzen und Wunden anzunehmen weiß, ohne Geschehenes ungeschehen machen zu wollen, die trotzdem aber die Hoffnung in den Raum stellen möchte, die noch Größeres zu bewirken vermag, als es uns Menschen jemals möglich wäre. Für Martin meint Spiritualität weit mehr, als dass sie auf den (christlichen) Glauben reduziert werden könnte, sondern bezieht sich im umfassenden Sinne auf eine „Lebenserkenntnis. Auf all das, was in meinem Leben passiert“. Für ihn ist Religion „der Ausdruck einer Überzeugung“, dass nämlich „Gott die Gesamtheit der Liebe und reine Positivität ist“, und diese Liebe kommt dem Menschen nahe, durchdringt ihn dergestalt, dass am Ende des Lebens, wenn der irdische Teil des Menschen verabschiedet wird, das Gute, an das wir uns erinnern, einen bleibenden Platz im Leben von Angehörigen behalten wird. „Die Erde nimmt alles auf, auch das Schlechte. Die Erde ist ein Ort der Verwandlung, der es Menschen ermöglicht, sich das Gute, die Liebe, die war und immer bleiben wird, mit nach Hause zu nehmen“. Für Martin ist es „der Kern meiner Seele, der die Liebe ist“, die im Leben anderer seinen Platz finden möchte. Auch für Julia heißt „von der Liebe sprechen zu können, eine Erfahrung gemacht zu haben.“ Besonders in Momenten des absoluten Staunen-Könnens über die Schöpfung, die sich ebenso im Antlitz ihrer Kinder widerspiegelt, stellt sich für beide eine Erkenntnis ein: „Da ist so viel Größeres! Ein Leben, das sich einem anderen verdankt weiß. Leben, das aus Liebe zwischen Vater und Mutter entsteht: Zwei Augen, die ein Gegenüber suchen, ohne zu bewerten. Zwei Füße und Hände, die offen sind, zu geben. Eine Stimme, die Rat zu geben weiß... Das ist einfach nur schön“, so Martin. Und auch wenn alles abzufallen scheint am Ende der Tage, so bleibe dieses Staunen, so bleibe die Liebe. Für Martin ist es genau jener Punkt, an dem er ansetzt, wenn es darum geht, letzte Worte zu sprechen: „Menschen kommen zu einem Begräbnis, weil sie etwas berührt hat an diesem Menschen. Und meistens kann in der Stille des Zuhörens am meisten gesagt werden und etwas erfahrbar werden, nämlich die Zusage: Du bist mir wichtig.“.

„Und plötzlich wird das leere Bett zu einem besonderen Ort“ (Martin) 

Lang und innig schauen sich Martin und Julia an. Eine Kunst, gemeinsam die Stille (er)tragen zu können, aus der Dankbarkeit wächst, die sie sich gegenseitig zusagen können.
Für Julia entspricht Martin’s Stil des würdevollen Abschiednehmens, den sie erst bewusst durch ihn kennengelernt hat und ohne den sie nicht in den familiären Betrieb eingestiegen wäre, ihrer eigenen existenziellen Annäherung an Tod und Trauer. „Der Abschied zu Hause ist ganz wichtig, weil es so ein intimer Ort ist“, so Julia. Ihre Mitarbeiter*innen werden von Beginn an dafür sensibilisiert, dass der häusliche Ort des leiblichen Abschiednehmens würdevoll zu betreten und zu verlassen ist. „Immer wenn wir fahren, dann legen wir eine Blume ab. Es ist ein Symbol dafür, dass etwas zurück bleibt. Und plötzlich wird das leere Bett zu einem besonderen Ort“, so Martin. Grundsätzlich betont das Ehepaar Dobretsberger die Bedeutsamkeit ihrer Mitarbeiter*innen in diesem „ersten großen Moment der Verunsicherung.“ Auch bei Julia kommen Erinnerungen an ihre Polizeiarbeit hoch, in denen nach Totauffindungen Menschen in Blechwannen oder in Säcken abtransportiert wurden, anstelle sie würdevoll und sorgsam abzuholen. Julia spürt auch heute noch diese Erschütterung angesichts eines kalten, technischen Umgangs mit Menschen: „Nie mehr wieder will ich das erleben“. Für Dobretsbergers ziehen diese Erfahrungen nach sich, ganz bewusst und in jedem Fall mit einem hölzernen Sarg vor Ort anwesend zu sein. Auch dass Kleidung ein Teil der menschlichen Würde ist, unterstreichen beide mit Nachdruck. So weisen sie unermüdlich darauf hin, verstorbenen Menschen nicht ein Nachthemd mitzugeben, sondern Kleidung, in der sie sich wohl gefühlt hatten. „Es sind keine Leichen, es sind Menschen“, betont Julia. Für Martin ist dieser besondere Umgang mit Menschen an ihrem Lebensende wiederum Ausdruck seiner Spiritualität: „Denn wenn ich nur spirituell bin, aber nichts damit tue, dann war es für nichts! Spiritus ist das, was bleibt. Berührt das Einfühlungsvermögen. Und die Liebe sucht den Nächsten. Sie will geteilt werden! Denn ich bin ein Mit-Mensch. Nicht alleine geboren und allein gestorben. Die egozentrierte Behauptung Mensch zu sein, weil man sich selber findet, ohne auf den anderen angewiesen zu sein, ist schlichtweg Unsinn.“ 

„Gemeinschaftserfahrung ist keine Einbahnkommunikation“ (Martin)

Seit beinahe zwei Jahren befinden wir uns in außergewöhnlichen Zeiten. Rituale, die, wie auch Martin betont: „Handlungen sind, die durch Wiederholungen Sicherheit und Sinn geben“, haben sich zwangsläufig verändern müssen. Feste und Feiern wurden aufgeschoben und vertagt. Für eine Verabschiedung kann dies nicht gelten. Der Tod ist nicht vertagbar, und das Trauern kann nicht aufgeschoben werden. Martin Dobretsberger befand sich in permanentem Studium der sich laufend aktualisierenden Corona-Verordnungen, sowie der Stellungnahmen der Bischofskonferenz in Bezug auf Corona-Hygienemaßnahmen und Präventionskonzepte, die Gottesdienste und im Speziellen Verabschiedungen betreffen. So sehr auch versucht wurde, Menschen durch das mediale Übertragen von Gottesdiensten Anteilnahme zu ermöglichen, so kritisch steht das Ehepaar Dobretsberger den Anfragen, Verabschiedungen via Livestream mitverfolgen zu können, gegenüber. Besonders an den verletzlichsten und sensibelsten Punkten einer Biografie, im Loslassen eines geliebten Menschen, könne es Martin und Julia zufolge einen irrsinnigen Stress verursachen, zu wissen, man werde gefilmt. Für die beiden ist es der gesamtheitliche Prozess einer Verabschiedung, zu dem das gemeinsame Weinen, wie das anschließende gemeinsame Lachen und Anekdotenerzählen gehören: „Durch das Entstehen des zwischenmenschlichen Bandes aller Beteiligten findet der Verstorbene erst seinen Platz“. Für Martin ist völlig klar: „Gemeinschaftserfahrung ist keine Informationseinbahn“, und „Empathie ist kein Produkt, das man kaufen kann.“ Für ihn als Trauerredner ist das Sich-Einlassen auf einen besonderen unwiederbringlichen Kontext und das Erspüren einer Atmosphäre, die konkrete Anwesende konstituieren, unumgänglich für eine stimmige Verabschiedung: „Der Zauber einer Situation ist weg, wenn ich mich theoretisch durch Begräbnisse klicken könnte“, das eine sichtlich unvorstellbare Vorstellung für beide zu sein scheint. Die Familie Dobretsberger bietet jedoch auf ausdrücklichen Wunsch hin an, eine Verabschiedung zu filmen, um sie ausschließlich einem engsten Angehörigen auf einem USB Stick zu übergeben. Ob Angehörige je Gebrauch davon gemacht haben, sich visuell erneut in die Verabschiedungssituation hineinzubegeben, das darf an diesem Punkt offen bleiben. Für Martin und Julia steckt gegenwärtig auch eine Chance – so schmerzlich sie auch ist –: die Wahrnehmung des Fehlens von etwas zutiefst Menschlichen und Essentiellen. Sich verabschieden zu dürfen von denen, die wir lieben. Es bleibt die Hoffnung, dass sich Zeiten wandeln werden, und eine künftige Normalität einkehrt, die das Vorangegangene nicht vergisst, sondern in sich bewahrt, was schützenswürdig ist. Ich bin sehr dankbar für diesen Vormittag, den ich bei Martin und Julia verbringen durfte. Sie haben ihrer Arbeit als Bestatter und Bestatterin wie als Wegbegleiter und Wegbegleiterin an den verletzlichsten Passagen unseres Daseins ein Gesicht gegeben. Ein Gesicht, das hofft, das bangt, das vor Freude hüpfen kann, das sich das Staunen zu bewahren sucht angesichts der Kostbarkeit eines jeden unwiederbringlichen Momentes. Ich durfte zwei Menschen kennenlernen, die sich verschenken, besonders deshalb, weil sie selbst um das Geschenk ihres eigenen Lebens wissen.


Julia und Martin in der Schnellantworterunde

 Wann hüpft dein Herz?
Julia: “Wenn ich Martin in die Augen schaue. Wenn ich an meine Kinder denke. Jetzt gerade.”

Was ist dir heilig?
Martin (überlegt lange): “Liebe! Als unumstößliches Prinzip, das in jedem Einzelnen von uns wohnt, die jede und jeder von uns lebt.”

Wofür lohnt es sich zu kämpfen?
Martin: “Ich bin ein kämpferischer Typ. Für Grundwerte, Fairness, Freiheit, alles, was mich emotional berührt.”

Was lässt dich strahlen?
Julia: “Wenn ich mich mit Menschen verbunden fühle. Wenn ich etwas geben kann, das Menschen berührt. Das empfinde ich als Bereicherung. Wo ich mich selbst geliebt und angenommen fühle.”

Wann weinst du?
Martin: “In Momenten großer Hilflosigkeit oder Erkenntnis.”

 Wie tust du dir Gutes?
Martin: “Mir geht es ja gut (lacht). Mit anderen passiert Gutes.
Julia einhakend: Ja, das möchte ich jetzt auch etwas genauer wissen. Deshalb kann man dir so schwer Gutes tun.”
Martin: “Wenn ich mich selbst vergesse. Wenn ich meine Körperlichkeit irgendwie nicht mehr wahrnehme. Zum Beispiel beim Spielen mit den Kindern, beim Segeln.”
Julia: “Das Gute passiert im Leben, wo das Leben im Fluss ist. Dort, wo sich mir Sinn erschließt.”

Ist dir schon mal ein Wunder begegnet?
Martin: “Ja, denn es gibt im Leben viele WUNDERvolle Momente, Begegnungen und Erlebnisse.
Julia: ...in vielen kleinen und großen Momenten.”

Wie würdest du das „Wunder“ beschreiben? Deine Definition?
Martin: “Wenn das Gefühl in mir, die Summe aller Eindrücke übersteigt.”
Julia: “unfassbar & zauberhaft”


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