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Sorg dich nicht. Lebenserinnerungen an Bildern festgemacht.

Sorg dich nicht. Lebenserinnerungen an Bildern festgemacht.

Malkittel an, ein großes Blatt Packpapier an die Staffel geheftet, Pinsel in die Farbe getaucht und los geht´s. Dann in den Farben versinken, in einer Geschichte, die man erzählen will, einem Motiv, das man vorher ausgewählt hat. Sich verlieren und dabei finden, ganz bei sich sein: das war das Kunststück, das im Mal-Atelier von Gerti Pilar gelungen ist. 40 Jahre lang. Etwas Wertvolles schaffen, ohne dabei bewertet zu sein. Sein zu dürfen ­ – ohne Leistungsnachweis. Die Erinnerungen daran sind unverwüstlich. Heute noch denke ich mit Freude und ein wenig Wehmut an diese Zeit, die sich für mich von der Vorschule bis zum Ende der Volksschule erstreckt hat. Schon früh bin ich als Schulmädchen alleine vom Stadtrand kommend mit der Straßenbahn in die Stadt zur Kunstuniversität gefahren, in das Gebäude hineinmarschiert und mit dem Lift hinauf in den vierten Stock zum Kinderatelier. Den langen Gang entlang, ankommen. Dann: drei Stunden Mal-Paradies.

Autorin Elisabeth Leitner (links) im Kinderatelier. Foto: Gertrud Pilar

Autorin Elisabeth Leitner (links) im Kinderatelier. Foto: Gertrud Pilar

Als ich später – ich war an die 30 Jahre alt - an diesen Ort zurückkehrte, das Mal-Atelier war längst übersiedelt, konnte ich noch die Gerüche, Gefühle, Erinnerungen abrufen als wäre es gestern gewesen. Heimlich habe ich einmal die Räumlichkeiten betreten, mir einen Sessel zum Dachfenster gestellt und hinausgeschaut – so wie damals als Kind. Die Donau und die Villa gegenüber, Wasser, Bäume, Häuser: all das war in meinem Blick gewesen, war es wieder. Trotz mancher Veränderungen. Dem Wasser zuschauen, wie es fließt. Und sonst nichts. Auch dafür war Zeit gewesen, wenn man sein Bild vollendet hatte. Manchmal gab es danach ein Gespräch darüber, informative Fragen der Leiterin Gerti Pilar, die selbst ganz im Hintergrund blieb. Auch das Staunen darüber, welche Farben man zusammengemischt und neu erschaffen hat, war spürbar. Aus sechs mach´ 100: ein Farbenuniversum erschaffen für ein Bild. Das war nicht zu viel Aufwand, das war notwendig für ein Bild, das meist am Entstehungsort blieb. 2000 Werke hat Gerti Pilar in 40 Jahren Malatelier gesammelt, einige davon wurden in Ausstellungen präsentiert.
Bilder aus dieser Zeit habe ich nur noch wenige. Ein Maibaum mit orangem Hintergrund, eine grüne Wiese mit gelben Tieren, ein hellgrünes Haus am See: Die Farben, Motive - und das Glücksgefühl sind bis heute im Kopf abgespeichert. Was ist geblieben aus dieser Zeit? – Nicht die große Malkunst. Kreativ sein ja, im schulischen Bereich habe ich mich nicht durch Mal- und Zeichenkünste hervorgetan. Trotzdem war diese Zeit keine verlorene Zeit. Sie hat mich geprägt: das Gefühl, von einer Sache ganz gefangen zu sein, für etwas ganz aufzugehen oder darin vertieft zu sein, konnte ich später auch in der Musik oder beim Schreiben erleben.

Das Bild entstand im Kinderatelier. Aus: Kinderkraft, 40 Jahre Kinderatelier, Hg. Gertrud Pilar, Kunstuniversität Linz 2010, ISBN 978-3-901112-54-6

Das Bild entstand im Kinderatelier. Aus: Kinderkraft, 40 Jahre Kinderatelier, Hg. Gertrud Pilar, Kunstuniversität Linz 2010, ISBN 978-3-901112-54-6

Geblieben ist neben der Lust am Schauen, auch die Neugier am Entdecken, die Welt und Menschen zu erforschen, ein gewisser Hang für alte Dinge. Besonders bei den Verwandten auf dem Land boten sich für mich unglaublich viele Möglichkeiten in alten Sachen herumzustöbern. Besonders beliebt waren hier die Dachstühle von Omas, Tanten, Cousinen. Immer wieder habe ich Sachen entdeckt, die mich in Staunen versetzt haben: der alte Gewandkasten des Urgroßvaters, das Gitterbett meines Vaters, selbstgenähte Puppen und Teddybären, klapprige Schlitten, vergilbte Schulbücher, dazu alte Fotos in braunen Pralinenschachteln. Ein kleines, in goldgerahmtes Foto habe ich da als Jugendliche gefunden und damals meiner Tante Erni gezeigt: der etwas grimmig blickende Junge ist mein Vater, damals ca. zwei Jahre alt, die junge Frau neben ihm seine Schwester Erni, meine Tante. Sie ist zehn Jahre älter. Damit sie auf gleicher Augenhöhe standen, wurde mein Vater auf einen Sessel gestellt. Da schaute er in die Kamera, die Hände in die Hosentaschen gesteckt. Tante Erni hielt in fest, den kleinen Racker. Das Foto hängt heute bei mir an der Schreibtisch-Wand. Mit dem brüchigen Rahmen, dem abgeblätterten Goldrand erinnert es mich an Zeiten, die ich nie erlebt ­– und die doch Teil meiner Familiengeschichte sind. Später meinten die Verwandten einhellig, dass sie hier meine beiden Brüder und sogar meinen Sohn erkennen könnten. Und das auf einem Foto, das heute ca. 72 Jahre alt ist.

„ ... der etwas grimmig blickende Junge ist mein Vater ...“  rechts:  Das Trostwort der Pflegemutter tröstet bis heute. Foto: Franz Litzlbauer

„ ... der etwas grimmig blickende Junge ist mein Vater ...“ rechts: Das Trostwort der Pflegemutter tröstet bis heute. Foto: Franz Litzlbauer

Neben dem Foto aus Vaters Kindheitstagen hängt ein in alte Schrift gefasstes Trostwort: „Sorg, aber sorge nicht zu viel, es kommt doch alles wie Gott es will!“ Es ist dies ein Erbstück meiner Pflegemutter, die vor mehr als zehn Jahren verstorben ist. Ich bin sehr an ihr gehangen. Sie war die Taufpatin meiner Mutter und hat daher auch die Familie mütterlicherseits gut gekannt. Als Kind habe ich viel Zeit mit ihr und ihren drei Kindern verbracht. Meine Mutter musste arbeiten gehen und war froh, dass sie jemand Verlässlichen hatte, der auf ihr Kind schaute.
Genannt habe ich sie schlicht „Tante“, sie war meine zweite Mutter: eine gutmütige Frau, mit viel Geduld, Humor und Gelassenheit. Wir lebten in einer Mietwohnung am Stadtrand. „Tante“ war Alleinerzieherin, ihr Mann stürzte bei einem Betriebsausflug am Traunstein ab. Viele schwere und tragische Momente haben aus ihr keine harte, verbitterte Frau gemacht. Bis ins hohe Alter war sie gut gelaunt. Sie ging nach anfänglicher Skepsis auch zu Wort-Gottes-Feiern und las gleichzeitig Bücher von Pater Pio. Ihrem Tod sah sie mit großer Gefasstheit entgegen: „Ich bin bereit,“ sagte sie, sprach es aus - und liebte das Leben, das Kartenspielen, die Gespräche in der Nachbarschaft.

Ihr Trostwort begleitet mich jeden Tag. Nur einmal die Augen zumachen: dann sehe ich neben dem Spruchkärtchen, auch das Kreuz, die Uhr an der Wand, den Küchentisch davor, die Blumen auf der Anrichte in der alten Wohnung von „Tante“. Der Geruch von Brot und Ribiselsaft. Die Erinnerung ist da. Aber sie plagt mich nicht.

Sie trägt mich, mir wird warm ums Herz.

Sorg dich nicht.


Elisabeth Leitner
erschienen in: Jahrbuch 2021 der Diözese Linz

Eine Wange hinhalten

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