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ver-wund-erlich

ver-wund-erlich

hartnäckig hat sie mich gefragt, diese sucherin nach wundern, die wunderbare wunderbloggerin
was denn wunder für mich persönlich seien
wundervoll unverwundbare ereignisse
oder doch
unumwunden wundersam etwas, das mit
wunden
zu tun hat

Leo ist erneut gestürzt. Sein Gesicht ist im oberen Drittel übersät mit blau-violett schillernden Flecken. Entlang der Stirn, oberhalb der linken Augenbraue zieht sich der Länge nach, eine dünne Schramme – rechts davon verläuft quer dazu eine stärkere, kurze rote Linie. Links und rechts von der Linie sind winzige Punkte zu sehen, vermutlich stammen sie von einer Naht. Ein Cut vom Sturz davor, denke ich. Dann trifft mein Blick auf die leuchtend blauen Augen meines Gegenübers. Das Strahlen in diesem Blick, der mich trifft, lässt alles andere in den Hintergrund treten. „Dass Du gekommen bist…“ Es ist Karfreitag, in meiner Tasche sind Jaxon Pastell-Ölkreiden und ein Malblock. Leo hat wieder zu malen begonnen.

Ich kenne Leo schon lange. Als TheologInnen kreuzen sich unsere Wege oft und gerne in unterschiedlichsten Kontexten. Irgendwie habe ich es übersehen: Dass sie alt geworden waren, er und seine Frau, dass ich älter geworden war. Etliche Jahre muss es gewesen sein, dass Leo seine Frau gepflegt hat. Sie – diese kleine, zarte und doch so bestimmte Frau – immer voll Vertrauen, dass schon das Richtige passiert. In der letzten Zeit war sie sehr erschöpft, konnte dieser Erschöpfung aber auch trotzen: „Dann habe ich eine Kakipflaume gegessen und dann hatte ich wieder Kraft!“ Sie wusste sich zu helfen. Sie hatte seine Hilfe. Geduldig führte er seine Hand zu ihrem Ellbogen, wenn sie aufstand, und sich drehte, um nach ihren Krücken zu greifen. Erneut erzählte er von ihren Stürzen – bei der Einstiegsrunde am Bibliolog-Abend, am Telefon, in einigen der vielen Rundbriefe, die vertraute WeggefährtInnen in regelmäßigen Abständen zugesandt bekamen. Als sie starb, traf ihn die eigene Schwäche mit voller Wucht. Was tun, wenn in der Nacht der Todesengel vermeintlich bereits vor der Türe steht? Wohin sich wenden, wenn Angst und Panik die Oberhand gewinnen, weil die schwere Lungenerkrankung so heftige Atemnot auslöst?

Leo und seine Frau bewohnen seit etlichen Jahren ein renoviertes kleines schmuckes Häuschen – Zimmer, Küche, Kabinett. Ihr ehemaliges großes Wohnhaus nebenan haben sie an eine siebenköpfige syrische Familie vermietet. Durch Leo und seine Frau lernt die syrische Familie Deutsch und was es heißt, als AsylantInnen mit schlimmen Erfahrungen in einem fremden Land willkommen geheißen zu werden. Leo und seine Frau lernen, dass sie sich auf Enis und Jasina und auf ihre Kinder verlassen können. Egal, ob etwas zu reparieren ist, ein Bügelberg bewältigt werden muss, Essen einfach vor die Tür gestellt wird. Nachbarschaft, die sich mit der Zeit in „wahre Verwandtschaft“ (vgl. Mk 3, 31-35) zu verwandeln beginnt. Als Leos Not mitten in der Nacht groß wird, zögern sie nicht eine Sekunde. Sieben Köpfe verteilen sich auch in einem großen Haus rasch, doch Leos Arbeitszimmer ist auf wundersame Weise die Jahre hindurch unberührt geblieben. Nun zieht er wieder dort ein.

Das Arbeitszimmer ist einfach eingerichtet und gemütlich. Das alte Sofa hält ausgezogen als Bett her – tagsüber lässt es sich aufgeklappt mit Pölstern bequem darauf sitzen. Eine Dachschräge gibt den Blick frei auf eine Baumkrone und den Himmel. Leo hustet furchtbar. Jasina bringt Tee – auch für den Gast. Das Fortschreiten der Erkrankung lässt nicht viel Zeit übrig. Bücher müssen aussortiert werden, so viele Dinge sind noch zu regeln. Inzwischen steckt der fünfjährige Salim den Kopf zur Tür herein: „Leo?“ Salim kann schwer verstehen, dass Leo viel Ruhe braucht. Wenn ich bei Leo im Arbeitszimmer bin, zeigt er mir die Bilder, die er zuletzt gemalt hat. Kraftvolle, bunte Bilder leuchten mir entgegen. Wir interpretieren sie gegenseitig. Oder Leo liest mir den Haiku vor, den er dazu geschrieben hat.

Leo wird schwächer. Enis und Jasina helfen so gut es geht. Für die syrische Familie ist es sehr schlimm, dass die Umstände es nicht zulassen, dass Leo bleibt. Er wird in ein geriatrisches Krankenhaus verlegt. Die medizinische Versorgung ist sehr gut – die inneren Nöte sind groß, die Zerrissenheit bei jedem Telefonat und bei jedem Besuch spürbar.

Nun fahre ich nicht nur zu Leo in die Klinik, sondern immer wieder auch zu Jasina und Enis. Manches Mal ist es nicht einfach mit der Sprache, aber wie durch ein Wunder können wir uns direkt und ohne Umschweife verständigen. Wir sprechen gemeinsam, erzählen uns Geschichten von Leo und seiner Frau, lachen und weinen, rufen Leo an und stellen das Handy auf laut. Leo ist körperlich schwach, seine Kraft reicht oft kaum aus für mehrere Sätze hintereinander. Aber sein Geist und sein Herz sind hellwach. Jasina erzählt vom Morgen, als der Krankenwagen kam, um Leo abzuholen – von seinen und ihren Tränen und davon, wie er ihre Hand gehalten hat und ihr in die Augen geblickt hat, als er zu ihr sagte: „Nun bin ich der Asylant!“

Leo, 2. April 2021

Leo, 2. April 2021


Maria Elisabeth Aigner

mich.ein wenig.verändern.

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Ostersonntag

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