Schneller als Schnee
Können Hostien fliegen? Unsere Augen sind zu träge, um den hellen Plättchen zu folgen, die in einem weiten Kreis rund um uns zu Boden sinken. Sie fallen langsamer als Regen, schneller als Schnee. Manche geraten ins Trudeln, ähnlich den Flugfrüchten, die uns der Herbst vom Himmel wirft. Was werden sie säen?
An zwei Julitagen treffen sich drei Künstler*innen und drei Theolog*innen in einem Atelier in Wien. Sie kommen im Vertrauen darauf, dass die Performancekunst und die Pastoraltheologie von- , mit- und gegeneinander lernen können. Auf Einladung von Katharina Brandstetter und Martina Resch öffne ich einen Raum, in dem wir mit den Sakramenten spielen. Denn Rituale täuschen uns. Sie scheinen per se lebendig zu sein, werden sie doch immer wieder aufs Neue von Menschen in die Tat umgesetzt. Und doch zeigt die Praxis, dass sie erstarren können. Wie also hält man Rituale, die seit Hunderten, gar Tausenden von Jahren vollzogen werden, am Leben? Und wenn „das Sakramentale die Grammatik des Heiligen“ (Martina Resch) ist, wie macht man sie für die Gegenwart lesbar?
Die Kunst ist frei und wenn wir uns freigeben können, dann sind wir es in ihr. Sie erlaubt uns, das auszuprobieren, was andernorts nicht gedacht und nicht getan werden kann. Alles ist berührbar. Im Labor, wo der Prozess nicht ins Werk münden muss, regiert das Spiel – es herrscht ernst und unbekümmert. Wir unterwerfen uns ihm zwei Tage lang. Im Zentrum des Ateliers steht eine Installation: vier Säulen aus Glas, gefüllt mit Öl, Wasser, Wein und Brot (Esther Strauß). Wir nähern uns unbefangen, testen die Stoffe wie Bildhauer*innen, die experimentieren, um zu verstehen. Auf langen Papierbahnen machen wir das Sprengmuster des Aspergills mit Wein sichtbar, lassen eine Hostie aus Eis (Jack Hauser) von Hand zu Hand gehen, heben sie über unsere Köpfe, bis sie verschwunden ist. Wir tasten „das kulturelle Feld, das einen Gegenstand umgibt“ (Sabina Holzer) ab und versuchen, es zu erweitern.
Vor ein paar Jahren hat mir mein Vater augenzwinkernd ein Talent zur Respektlosigkeit bescheinigt. Ich bin in der Performancekunst gut aufgehoben, da sie nicht umhinkann, außerhalb der Norm zu handeln. Wer in ihr lebt, übt sich in der Überschreitung und sieht sich jeden Tag daran erinnert, dass alles, was wir tun, auch ganz anders in die Tat gesetzt werden kann. Performance bedeutet für mich, die poetischen Möglichkeiten meines Handelns voll auszuschöpfen. Das hat nichts mit Respektlosigkeit zu tun. Das freie Spiel mit der Form drückt eine tiefe Freude am Forschen und Lernen aus; es trainiert mit Musil den Möglichkeitssinn. Respektlos wäre es, das, was wir ins Zentrum unseres Lebens stellen, nicht zu erforschen, es als gegeben hinzunehmen, keine Fragen zu stellen.
Wem also gehören die Sakramente? Wo findet ihre Ritualevolution statt und wer ist zu dieser Verhandlung zugelassen? Welche Begegnungsräume brauchen Menschen heute, um sich Rituale anzueignen, um „das Persönliche im Heiligen“ (Katharina Brandstetter) zu finden? Ich bin nicht religiös, Gott ist nicht mein Gegenüber. Aber ich bewundere den Mut, mit dem sich Pastoraltheolog*innen dem Existenziellen zuwenden, ihr Bemühen, Menschen in herausfordernden Lebenssituationen zu begleiten. Performancekünstler*innen und Pastoraltheolog*innen sind einander durch ihre hohe Ritualkompetenz verbunden. Gerade weil sich die Regeln ihrer Felder und die Art und Weise, wie sie zu Gesellschaft beitragen, unterscheiden, ist ihre Begegnung fruchtbar.