Schnee im Mai
Auf der Suche nach Bedeutung trage ich schwere Buchstaben durch die Stadt. In hölzernen Kisten, die älter sind als ich und schwerer er-tragbar als ich es je sein wollte. So gehe ich nun und schleppe die verpackten Letter in Reih und Glied, sortiert und geordnet, fast zu schön um sie zu berühren. Als würden sie schlafen wie in einem eigens gezimmerten Bett. Sollte ich sie wecken? Jetzt hätt ich noch alles im Griff. Unweigerlich muss ich uns antreiben. Würde ich mich der Schwere ergeben, wir würden allesamt liegen bleiben, ohne je wirklich mit unseren Dämonen gekämpft zu haben. Ich will sie tragen und wiege sie mit jedem Schritt, in der kühnen Hoffnung, sie doch locken zu können. Wenn doch nur ein Wort sich meldete, dessen Gewichtigkeit es sich zu tragen lohnt, weil es geboren werden muss und es hinausdrängt in das Jetzt des ersten Schreis, der die Kammern füllt mit heißem Atem und die Flügel anheben zum Sprung. Es bleibt stumm. Nur ein Stöhnen und Keuchen ist zu hören. Ob Wörter träumen können, und wovon. Dieser Gedanke treibt mich weiter. Der Himmel beginnt sich zu verdunkeln. Und ich. Nicht eine Bedeutung hervorgebracht.
Ich bringe das lose in Holz geschlichtete Aneinander ins Trockene, bevor sich der Himmel über mir erbricht. Hinter durchsichtigen Scheiben bestaune ich nun das Chaos. Tropfen so schwer wie Bleib geben sich auf dem Weg die Hände und bringen auf halber Strecke Neues hervor. Von einem Moment auf den anderen tanzen weiße Kugeln über glänzenden Asphalt. Graupelschauer, endlich hab ich ein Bild zu diesem Wort. Auf den wilden Tanz folgt Sonne, die jegliches Schaustück verflüssigt, nur um den nächsten Akt einzuläuten. Für einen Moment ist es still. Hinter mir schlafen die Wörter unbeeindruckt weiter. Tief und fest in ihrem Bett. Ich schaue aus dem Fenster. Sonst nichts.
Weiße Wattebauschen lassen sich gehen und fallen übereinander her, streifen sich, kreuzen sich, ohne einander zu gehören. Ohne sich etwas, den Anderen zu nehmen. Mein Blick wird klar und verschwimmt im nächsten Moment. Was wäre passiert, hätte ich mich auf die Straße gesetzt um Atem zu holen. Ich hätte mein Gesicht erhoben um mich bespielen lassen können von den Gezeiten. Meine Buchstaben-Koffer auf dem Schoß. Ich hätt sie gewärmt und ihnen doch einen Blick erlauben können. Der Regen hätte uns durchnässt. Lustige Kügelchen uns geschmückt. Sonnenstrahlen uns gekitzelt und weiße Wolkenfetzen uns gestreichelt. Ich staune vor jedem Menschen, der dies wagt. Heute träume ich davon, leere Worte ziehen zu lassen um eine neue Bühnen zu bauen. Wo die verkörperten Buchstaben sich treffen um auszuprobieren wie man fühlt und man sich kleidet in der Form eines Anderen. Ich werde sie alle aussetzen müssen. Ich bin da.
Vielleicht werden so neue Worte geboren, die ohne Scheu und Schrecken sich begegnen, weil sie sich bildern ließen - buchstäblich - mit Haut und Haaren durch Eiswüsten und Schneemeere schritten. Steckten sie nicht alle in einer Haut? Die den Geschmack fruchtigen Regens atmeten und Wundmale vergangener Hagelstürme tragen? Und niemals mehr ihre Sonne verbergen, auch wenn der polternde Donner droht. Die schrammigen, nassen, verblichenen Wortegebilde werden sich verabreden und sich erste Blicke zuwerfen, mit Fingerspitzen entlang der Ränder des Anderen sich ihrer selbst versichernd. Vielleicht reicht ein erstes lächelndes Schweigen, um sich erste Fragezeichen zuzuwerfen: Wie wollen wir uns zusammensetzen, damit Neues geboren werden kann? Selbst wenn die Wortreiche noch nicht gebaut sind. Rührung ist ein Fundament.