Was Fronleichnam mit einer Schreibmaschine zu tun hat
Meine sogenannte „Tante“ erzählte mir – besonders im Alter drang die Geschichte mehrfach in ihr Bewusstsein – von ihrer Fluchtgeschichte und ihrer Schreibmaschine.
Es muss einer Prozession von Menschen nahegekommen sein, die kurz vor Kriegsende die Stadt Wien, ihre Häuser und Wohnungen zu Fuß verließen, um mit dem Nötigsten ausgestattet, Zuflucht zu finden an anderen Orten. Die „Tante“ war eine von vielen jungen Mädchen, die sich auf die Reise machte, um ihre bereits geflüchteten Eltern in Mariazell zu finden, ohne zu wissen, ob sie noch lebten. Nichts weiter im Gepäck als das Nötigste. Doch auch das scheinbar Nötigste wurde zu schwer um es über den Gebirgspass des Zellerrains zu transportieren. Die Menschen warfen ihr Hab und Gut den Hang hinunter um vorwärts zu kommen. Tage später begannen die Menschen die Hänge zu begehen um Dinge wieder zu finden oder sich Neues mitzunehmen. Wärmende Decken, Küchengeräte, Konserven, Kleider. In dieser Vielzahl von entledigten Dingen, befand sich die alte Schreibmaschine, die angesichts der Lage als nicht notwendig eingestuft werden konnte. „Tante“ nahm sie mit und seit ihrem Tod darf ich sie mein Eigen nennen.
Seitdem umgibt sie für mich ein Geheimnis und setzt mich ins Verhältnis zu einer viel größeren Geschichte. Ich frage mich oft, was darauf wohl getippt worden ist? Liebesbriefe, Protokolle, Erzählungen, Schriften. Ich werde es nie erfahren. Doch hält sie das Fragen und die Neugierde in mir wach. Aus lauter Behutsamkeit und Ehrfurcht hatte ich sie in ihrer schwarzen Hülle abgestellt. Behandelte sie wie eine Kostbarkeit, betrachtete sie als Erinnerungsstück vergangener Tage, wollte sie schützen vor Staub und Blicken, bis sie irgendwann zum verborgenen Dekorationsgegenstand wurde.
Vor drei Monaten habe ich sie herausgehoben aus ihrem dunklen Schlummer und ein erstes Gedicht darauf getippt. Es bedurfte zahlreicher Versuche, bis die Buchstaben dort standen, wo ich wollte, bis sie so schwarz gedruckt waren, dass man sie auch lesen konnte. Bis ich verstand, wie sie tickt und was sie mir sagen möchte. Ich musste mich ihr leibhaftig nähern und mich ihr anvertrauen. (Sie entlockte mir mehrfach Zornesgebärden) Wir lernen uns seither kennen. Welchen Anschlag sie verträgt. Dass ich kräftige Finger benötige. Dass sie klingelt, wenn eine Zeile vollgeschrieben ist. Warum ich das erzähle und genau an jenem Tag, an dem Fronleichnam gefeiert wird? Ich weiß es selbst noch nicht so genau. Da war lediglich eine Spur, eine Ahnung, eine Irritation, dass dieses Ding für mich etwas mit diesem Tag zu tun haben könnte, sonst wäre sie mir ja nicht in den Sinn gekommen. Sie spiegelt in jedem Fall etwas von einem Mysterium wider, das ich nicht ergründen werde könne, und es doch in mir wirkt. Für mich ist meine Schreibmaschine ein reales Symbol, für eine Geschichte, die ich nicht verursacht habe, derer ich mich aber nicht entziehen kann. Sie ist ein Symbol, für ein Weitergehen, für Hoffnung, für Mut und Vertrauen. Sie ist ein materielles Symbol, das mich ruft, sie am Leben zu erhalten. Sie ist für mich persönliches Symbol, dem ich Bedeutsamkeit beimesse, die mich aufgefordert, (meine) eigene Geschichte weiter zu schreiben. Symbole sind überschüssig. Weisen über sich hinaus. Sind immer mehr, als das, was unmittelbar ist. Wollen gar nicht so sehr erklärt werden, sondern wollen Wirksamkeit entfalten, durch Interaktion, Aneignung und Überprüfung. Symbole brauchen Luft, wollen ungern versperrt werden. Wollen begriffen werden. In die Präsenz geholt werden. Wollen ergangen werden und beschritten werden. Sie wollen mitten im Leben platziert sein, bieten sich an, geben sich hin, damit Formfindung und Sprachfindung weitergereicht, lebendig bleiben kann.
Ich mag das Wort „Real-Symbol“ sehr gerne, weil es ein Geflecht aus Bedeutung und Materialität herzustellen vermag, Welten eröffnet, ein Erfahrungszustand, der ohne mein Zutun, meine Deutung und Aneignung, nicht an mir und mit mir wirksam werden kann.
Reale Symbole helfen Geschichten zu deuten, helfen dem Verstehen und Einordnen von meinem Da-Sein ein klein wenig auf die Sprünge. Oder legen kleine Spuren. Möglicherweise muss ich selbst zunächst einen Schritt zurück machen, um mich erneut tastend, vorsichtig und fragend diesem Hochfest nähern zu können.
Geschichten, die von Hingabe erzählen, haben die Potenz Leben zu wandeln. Haben die Kraft, mich eintauchen zu lassen in eine Geschichte, die hinter mir liegt, und die mein Vorwärtsgehen will. Die Schreibmaschine ist mir „heilig“, ja, warum sollte ich das nicht sagen können. So wie meiner Mutter der Leib Christi „heilig“ ist, weil er sie tiefer, empfindsamer, mutiger und gleichsam gelassener für diesen Tag werden lässt. Welch spannender Austausch das werden könnte. Über Heiliges und Wirksames, über Abfälliges und Verworfenes. Über das, was gut tut und das, was drückt zu sprechen.
Gestern durfte ich ein wunderbares Gespräch mit einem „Zirkusdirektor, Clown und Spielmann“ führen, und er die Frage in den Raum stellte: „Geht es uns nicht allen um Verwandlung? Um ein sich nähern eines Geheimnisses, das wir sind?“ Wie sehr ich ihm beipflichten kann.