poetischer Fußabdruck
Seit beinahe einem Jahr beobachte ich einen Menschen, der mir entzogen ist, dessen Spuren ich jedoch ab und an finden kann. Dieser Mensch schmückt Briefkästen, Fensterbänke oder Gitter vor Glasscheiben, Haustüren und Türklinken. Manchmal sind es Efeuranken, manchmal ist es eine kleine Blume, mal sind es Kartonstücke, dann Zweige oder Laub. Die Dinge verwelken oder verschwinden einfach wieder. Einmal hab ich eine Karte von mir an solch einen Ort gelegt. Eine Stunde später war sie weg.
Wer sie wohl genommen hat? Vielleicht genau dieser Mensch? Ob er oder sie es als eine Art Antwort interpretierte? Als Dank. Als Gesehen-Werden in der Unsichtbarkeit? Ich habe diese Person noch nie gesehen. Manchmal wünschte ich, ich würde den Menschen auf frischer Tat ertappen, um mich zu vergewissern, wie die Person aussieht, wie alt sie ist, ob groß, klein, alt oder jung, Mann oder Frau. Ob die Intention des Tuns auch deckungsgleich mit meiner Deutung ist? Und bin im nächsten Moment wieder froh, dass ich kein Gesicht, kein Bild dazu habe, wer mir meine Alltagswege zu schmücken scheint. Dieses kleine Mysterium möchte ich mir sogar ganz gerne bewahren. Man könnte sagen, vielleicht ist es jemand Verrücktes. Weshalb? Weil es ungewöhnlich ist? Man könnte auch fragen, bin ich denn verrückt? Denn ich selbst wage nichts Anderes, indem ich Dinge niederlege, oder Details und Fragmente mit anderen Augen zu sehen versuche und an die Häuser und Wände meine Worte herantrage, ohne sie verletzen zu wollen, und stets darauf poche: Es hat Bedeutung. Wie ich mich in der Welt bewege. Wenn ich mich bemühe, den Dingen eine weitere Facette abzuringen. Wenn ich es wage und probiere, Menschen hinter den Dingen zu sehen. Und oft erzählen sie so viel von ihnen. Von Sehnsüchten und Träumen, von Empörung und Leid. Die Intention hinter den geschmückten Winkeln werde ich nie zur Gänze ergründen können. Das liegt dann wohl an mir. Mit welchen Augen ich diese kleinen Interventionen betrachte.
Ich mag den Gedanken, dass es Spurenleger*innen gibt, die wollen, dass ich suche und finde. Die vielleicht wünschen, dass ich weitertrage, mitnehme oder mein eigenes hinzutue. Diese Spuren schreien nicht laut, sind eher Angebot und Gabe, wollen gerade nicht, dass ich Abbilder generiere und vervielfältige, sondern fordern mich heraus, mein Eigenes zu erforschen und zu finden. Oft erscheinen mir diese kleinen, feinen Spuren als Wegmarkierungen, als poetische Fußabdrücke, die gerade in ihrer Zartheit in der Lage sind, meinen Augen-Blick zu verlangsamen. Genau vor einem Jahr habe ich „Das Rezept“ von Mascha Kaléko auf meiner Schreibmaschine getippt und es auf eine gläserne Scheibe hin zum Donauwasser gehängt. Am nächsten Tag war es heruntergerissen und lag im Müll. Ich habe die Fragmente wieder eingesammelt. Meine Welt war für einen Moment erschüttert. Ich werde nie erfahren, ob es ein gelesenes Wort war, das unerträglich betroffen machte, oder es die Tatsache eines Textes an unerlaubter Stelle war...
Letzte Woche habe ich während der Aschermittwochs-Feier den Satz gehört: „Welcher Mensch möchtest du am Ende deines Lebens gewesen sein?“ Es ist gut, dass ich das nicht jetzt schon weiß. Was ich weiß, ich möchte nicht hinter meinem eigenen Anspruch zurückbleiben, dem Wunder als die Kostbarkeit im Kleinen, auf der Spur bleiben zu wollen, um es mit anderen zu teilen, um zu ermutigen, es mir nicht gleich zu tun, sondern ermuntern, die eigene Form zu finden. Ich möchte ehrlich zu mir selber sein und sehe mich seit gefühlten Wochen nur mehr hinterm Schreibtisch. Auch das ist ein Wunder, dass so viele schöne Verbindungslinien sich abzeichnen und man beginnen darf zu verweben. Ich möchte unterwegs und beweglich bleiben. Das Geheimnis, das Offen- und Leerbleibende aushalten lernen. Nie vom Wunder erzählen, wenn ich mich selber wundere, warum es sich vor mir verschließt und die Antwort auf die Frage so simpel ist. Wer möchtest du gewesen sein? Wer möchtest du heute sein? Diese Frage möchte ich wachhalten in mir. Heute wieder einmal ganz bewusst und mich Herantasten an diesen großen, weiten Erfahrungsraum, der voll ist von Denk-Würdigkeiten, die oft hintergründig die Tiefe und Weite der flüchtigen Spuren zum Anlass nehmen, nach dem Bleibenden im Vergänglichen zu fragen.