Categories


Authors

Kirsche - Staub - Stuhl

Kirsche - Staub - Stuhl

Mein Sohn begann im letzten Herbst mit der Schule. Nun beginnt das neue Schuljahr. Dazwischen liegt eine ziemlich wirre, aufwühlende und herausfordernde Zeit. Für Kinder, wie für ihre Eltern. Weil dieses Jahr ein Abschlussritual für die Kinder fehlte, versuche ich mich ganz bewusst an die ersten Schultage zu erinnern und trage diese Gedanken an den neuen Anfang heran. Dabei fallen mir drei ganz besondere Worte ein.

Mein Sohn begann also im vergangenen Herbst mit der Schule. Er fühlte sich mächtig stolz und ziemlich groß, wenn er sich seine übergroße und überschwere Schultasche umschnallte. Er tat mir fast leid dabei, aber er verweigerte kategorisch, sich das Ding abzunehmen zu lassen, wenn wir uns auf den Weg machten. Gut so! Selbst ist das Kind. 
Eben durch diesen Schuleintritt hatte sich auch mein Rhythmus gehörig verändert - dass es so schnell so ganz anders kommen würde, konnte ich damals natürlich nicht ahnen. Es erschien mir, um ganz ehrlich zu sein, als stecke ich plötzlich in einem etwas zu eng gewordenen Korsett, oder ist ein Korsett immer zu eng? Alles was Atem nimmt, ist grundsätzlich nicht förderlich. Dabei spreche ich ja nur aus meiner Perspektive.
Meine Alltagsrituale mussten sich gezwungenermaßen verändern, bzw. versuchte ich Neue für mich zu finden. Vor Schulbeginn war ich in der glücklichen Situation morgens genügend Zeit zu haben um mich innerlich einzustimmen auf den Tag. Die Kaffeemaschine einschalten, mich langsam waschen und anziehen, eine Zigarette rauchen, meinen ganz wichtigen Menschen, einen sehr guten Morgen wünschen, den Computer einschalten, ein paar Zeilen schreiben, nachdenken, still sein.

Was nehme ich mir vor? Welche Termine stehen im Kalender? Was ist heute wirklich wichtig?

Und nun musste alles ein klein weniger schneller gehen: Die Spiel-Zeit vor dem außer Haus gehen war ein wenig kürzer, das Anziehen und Fertig-machen musste ein klein wenig schneller gehen. Die Tasse Kaffee und meine Guten-Morgen-Zigarette gönnte ich mir weiterhin, und dem außer-Haus-gehen-Müssen, versuchte ich eine kleine Unterbrechung vorausgehen zu lassen. Gelungen ist es mir nicht immer. Aber wenn es gelungen war, dann tat es gut. Das tut es heute noch.

Ich lasse meinen Blick für einen Moment über das Bücherregal gleiten, verweile bei den Buchrücken, so verschieden, in Farbe, Form und Gestalt. 

Welches Wort, welcher Titel sprechen mich heute an? Welche Farbe passt zu diesem Tag?

Ist es heute ein dickes, großes und schweres Buch mit hartem Einband, oder ein ganz kleines, dünnes, mit nur wenigen Seiten, das ganz leicht in der Hand liegt? Intuitiv ziehe ich eines hervor, blättere ein wenig darin, werfe den einen oder anderen Blick auf einen Titel. Ist es heute ein Gedichtband, der mich anspricht? Oder ein Bildband? Theologische Fachlektüre, oder eher ein Roman? Ich wähle aus dem Bauch heraus, nicht zu lange zögern. Die Zeit ist ja knapp. Ich blättere Seiten durch, überfliege sie, bis mein Blick haften bleibt. Dann atme ich tief durch und lass es ganz still werden. Lese oder betrachte einmal. Vielleicht ein zweites Mal. 

Bei welchem Wort, bei welcher Zeile oder bei welchem Bild möchte ich kurz innehalten? Ich wiederhole Wörter oder Textpassagen. Warum ist es genau jene Stelle, die mich anspricht? Was will mir dieser Text, dieses Bild heute sagen? Ich wiederhole das Wort erneut. Ich versuche ganz ruhig zu sein. Und manchmal da fesselt mich eine ganze Geschichte. So wie an diesem einen Morgen im Herbst.

Bildnachweis: mit freundlicher Genehmigung, Agnès de Lestrade, Illustration: Valeria Docampo, mixtvision Verlag

Bildnachweis: mit freundlicher Genehmigung, Agnès de Lestrade, Illustration: Valeria Docampo, mixtvision Verlag

Ich hielt das Büchlein „Die große Wörterfabrik“ in den Händen. Eine Geschichte über die ganz große Bedeutung von scheinbar ganz kleinen Wörtern. Eine Geschichte von der zärtlichen Liebe, die man um kein Geld der Welt kaufen kann. Eine Geschichte, die von Paul und Marie erzählt. 
Paul möchte so gerne so Vieles sagen, aber das geht nicht in seiner Welt, denn nur die richtig reichen Menschen können sich die richtig großen Wörter und Sätze leisten, denn Wörter, die muss man sich verdienen, bevor man sie schlucken kann und man sie wieder aussprechen darf. 

Und Paul hat kein Geld. 

Ab und an werden einem Worte geschenkt, dann, wenn die verloren gegangenen Wörter durch die Luft fliegen. Dann hofft man auf den ganz großen Fang. Manchmal findet man sie, weil sie niemand mehr braucht, oder sie keine Bedeutung mehr für jemanden haben. 
So fliegen eines Tages auch die Wörter vor Pauls Fenster vorbei, und er wird zum stolzen Besitzer von drei Kostbarkeiten. Doch jetzt ist es nicht an der Zeit, sie auszusprechen. Mit drei Wörtern in der Hosentasche macht er sich auf den Weg. Wie sehr hätte er sich genau diese drei Wörter gewünscht „Ich mag dich.“ Doch diese besitzt er nicht. 
Mit der Frage im Herzen, wie man denn zeigt, dass man jemanden mag, obwohl man nicht sicher ist, wie man das sagen kann, steht er vor Marie. 

Und lächelt. Marie lächelt zurück. 
Paul lässt seine Wörter fliegen. 

Marie hat keine Wörter um sich zu bedanken, da küsst sie ihn ganz sanft auf die Wange.  
In der Hosentasche verwahrt Paul noch ein einziges Wort, das er eines Tages im Mülleimer gefunden hat: Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt dafür: ... Welches Wort es ist, das verrate ich Ihnen jetzt nicht. 

Ein ganz zauberhaftes Buch, für Groß und Klein. Ein Plädoyer für den sensiblen und achtsamen Umgang mit Sprache und dass kein Wort bedeutungslos ist, wenn es in Liebe gesprochen wird. Ein Plädoyer für das Still-Sein, wenn Gesten mehr sagen können, als Worte es je auszudrücken vermögen. 

Bildnachweis: mit freundlicher Genehmigung, Agnès de Lestrade, Illustration: Valeria Docampo, mixtvision Verlag

Bildnachweis: mit freundlicher Genehmigung, Agnès de Lestrade, Illustration: Valeria Docampo, mixtvision Verlag

Mein Sohn und ich hatten damals täglich eine halbe Stunde gemeinsame Zeit gewonnen, denn so lange dauerte zu Beginn „unser“ Schulweg. Welch kostbare, neue Zeit. Ich verabschiedete mich im Klassenzimmer und flüstere ihm, einem Segen gleichkommend ins Ohr: „Kirsche, Staub, Stuhl.“ 



Haben Sie auch ein ganz kostbares, ganz bedeutsames Wort, das Sie morgens begleitet?

 Eines, das nie fehlen darf?

 Oder ist es eine Geste, mit der Sie ihren Tag beginnen lassen?

 Wie lautet ihr Wort? Wie klingen Ihre Sätze?

 Sprechen Sie es doch beim nächsten Mal ganz bewusst aus, wiederholen Sie es gleich drei Mal.

Sie sind ja reich an Wörtern.

 


Ich wünsche Ihnen, dass Ihnen heute jemand mindestens drei kostbare Wörter schenkt! 

 

 

 

Nimm mich an und für sich

Es war einmal ...

Es war einmal ...