DIE BETRACHTERIN - Texte der ersten Runde. Stift St. Florian Fenster
VALERIA – die Getreue, die Tapfere
Im Zentrum des Stift St. Florian Fensters – gestiftet von den Chorherren des Stiftes – steht die Gestalt des HEILIGEN FLORIAN (+304). Die sogenannte „Passio Floriani“ (8. Jhdt.) erzählt von den Umständen des Prozesses über ihn und 40 seiner GefährtIinnen. In der Erzählung tritt eine Frau ans Licht, die im Fenster zweimal ganz in der Nähe des Heiligen dargestellt ist: VALERIA. Sie wird Witwe genannt (Florians Witwe?), der es sehr wichtig ist, Florians Leiche nicht den Schändern zu überlassen. So wie der erste namentlich bekannte Christ dieser Gegend einen klingenden Namen hat, so sollte es auch mit „der Frau an Florians Seite“ sein: FLORIANUS ist der BLÜHENDE (florens) und VALERIA (valens) ist die MUTIGE, die bei Nacht und Nebel die Beisetzung in die Wege leitet, und wohl die getreue Hüterin der Grabesstätte war. In einem Steinsarg in der Krypta der Stiftsbasilika werden ihre Gebeine verehrt. Es ist gut, wenn neben der „männlichen Glaubensseite“ auch der weiblichen Seite des Glaubens gedacht wird; gemeinsam bilden sie das Fundament der Kirche dieses Landes. Es mag erstaunen, dass alle Gestalten am Fenster männliche Gesichtszüge tragen, so auch Valeria; denn durch jede Person sollte ein konkreter Chorherr erkennbar sein. VALERIA wird in verschiedenen Florianizyklen als attraktive, kräftige Frau dargestellt. Ihre Glaubenseigenschaften dürfen sich dabei durchaus zeigen, die so etwas wie „ganzmenschliche“ (männliche wie weibliche) Kraft und Entschiedenheit verdeutlichen: Sie, die Frau an Florians Seite, ist über den Tod hinaus die Getreue, die Tapfere, die betet, die aber auch die Schaufel beherzt in Händen hat.
Prof. Ferdinand Reisinger, Chorherr des Stiftes St. Florian
#OutInChurch
Valeria trägt, wie andere Personen in dem Bild, die Gesichtszüge von Chorherren des Stifts. Diese genderfluide Darstellung war vermutlich nicht als solche intendiert, kann uns dennoch eine neue Perspektive eröffnen: Trans* Personen, das sind Menschen, die sich nicht oder nur teilweise mit dem bei der Geburt eingetragenen Geschlecht identifizieren, sind von Diskriminierung in der römischkatholischen Kirche betroffen. Die Darstellung der Valeria bietet die Möglichkeit, die Haltung der Kirche gegenüber queeren Identitäten und Körpern zu reflektieren und Formen der Unterdrückung zu hinterfragen. Ein erster Schritt dabei ist, die Perspektive der Betroffenen ein- und ernst zu nehmen: Folgende Zitate stammen von Beteiligten der Initiative #OutInChurch. Sie setzt sich für die Anerkennung und Rechte von trans* und anderen LGBTIQ+ Personen innerhalb der Kirche ein.
„Im [kirchlich-]institutionellen Sinn existiere ich als trans* Mann nicht. Die Vorstellung einfach für die Kirche immer nur als weiblich zu existieren, ist für mich enorm schwer zu ertragen.“ (Angehender Religionslehrer, 27)
„Dass ich nicht binär bin bedeutet, dass ich mich weder als Mann noch als Frau begreife und damit geht‘s mir gut. Ich bin selbst aufgewachsen in einer Kirche, die ausgrenzt, die vorschreibt wie Menschen zu sein haben und ich möchte der Welt zeigen, dass ich auch Teil der Kirche sein kann, wenn ich anders bin.“ (Kirchliche*r Angestellte*r, 24)
„Ich war auf einem katholischen Mädchengymnasium. Da habe ich immer schon gemerkt, dass für Themen wie Trans*identität in Bezug auf Glauben kein Platz war. Also wenn über das Thema gesprochen wurde, dann wurde es häufig eher als etwas Negatives beschrieben, also als etwas, was nicht so dazugehört. In Bezug auf meinen Glauben und trans* Sein war es so, dass ich da eigentlich immer sicher war, dass das OK ist.“ (Bildungsreferent, 34)
(Quellen Zitate: https://outinchurch.de)
Stephanie Bayer, Universitätsassistentin am Institut für Praktische Theologie, Universität Wien
Frau – Mann: schön schräg?
In Heiligenlegenden finden sich immer wieder genderfluide Erzählungen und Bilder. Ein Beispiel ist die hl. Kümmernis – eine Frau der 100 Fragen. Die Legende der hl. Kümmernis ist schnell erzählt: Ein mächtiger König will seine Christin gewordene Tochter mit einem Heiden verheiraten. Um das zu verhindern, bittet sie Gott, ihr die Schönheit zu nehmen. Der Jungfrau wachsen Bart und lange Haare – und sie wird vom Vater zur Strafe wie Christus gekreuzigt.
Kümmernis ist eine „schräge“ Heilige – in jeder Hinsicht. Sie wirft viele Fragen auf.
Fragen, die uns heute ebenso beschäftigen wie den mittelalterlichen Menschen.
Ist sie ein Mann?
Oder eine Frau? Oder beides?
Zweifelt sie an Gott?
Zweifelt sie am Glauben?
Zweifelt sie am Leben?
Wird sie zum Opfer wegen ihres Glaubens oder des Ungehorsams? Siegen männliche Macht und Gewalt über weibliche Hoffnung und Treue? Bekehren sich Vater und Bräutigam? Bedauern sie den Tod? Hat sie Angst vor Leid und Sterben? Warum hilft ihr niemand? Heilige ringen – mit sich selbst und mit der Welt. Sie sind nicht vollkommen, sondern suchen ihren Weg. In der männlich dominierten Welt bewahrt sich die hl. Kümmernis die eigene Identität. Das Äußere mag sich ändern, das Innere bleibt. Charakterstärke blitzt auf: Mut zum Widerstand, Entschlossenheit, Beharrlichkeit, Durchsetzungskraft, unbedingte Treue im Glauben. Eine Frau und Königstochter bricht Rollenbilder auf. Das Leben der hl. Kümmernis fasziniert bis heute. Auf den ersten Blick wirkt es schräg und fern – so fern wie das Mittelalter. Aber eben nur auf den ersten Blick…
Pater Winfried Schwab OSB, Abtei Ottobeuren