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"Auf der Einpackstation befindet sich ein unerwarteter Artikel."

"Auf der Einpackstation befindet sich ein unerwarteter Artikel."

Manchmal entscheide ich mich morgens einkaufen zu gehen. Um 7:45 sind noch kaum Menschen da. Ich spare mir das lange Warten in der Schlange. Ich kann durchsausen um alles zügiger erledigt zu haben. Die Wege kenne ich bereits. Die Liste habe ich im Kopf. Ich spreche nichts. Mit mir aber auch niemand. Die Verkäufer_innen sitzen nicht hinter ihren Kassen – der Tag ist wirklich noch sehr lange. Mit den Höflichkeitsressourcen will gehaushaltet werden. Aber die Einpackstationen stehen alle im Zeichen grünen Lichts. Ich hab mich bereits angefreundet mit ihnen. Bin vertraut mit den Dingen in meinem Korb und weiß wo sie ihre Barcodes verbergen, sodass ich sie mit einem Handgriff über den Scanner ziehen und ablegen kann. Die Einpackstation spricht zu mir. Eine weibliche Stimme, versteht sich von selbst. Ich klicke auf Zahlung und erhalte die Erlaubnis, die abgelegten Dinge nun wieder berühren zu dürfen, ohne, dass mich Frau Einpackstation rügt. Spätestens nach drei Dingen im Stoffsackerl kann sie es nicht lassen und muss mich ermahnen: 

 „Es befindet sich ein unerwarteter Artikel auf der Einpackstation. Bitte nehmen Sie diesen mit,“ oder so. 

 Ja, ja, denk ich mir. Ich mach doch schon schneller. Artikel 4 und 5 landen mit Schwung im Sackerl. Hoffentlich platzt der Topfen nicht. 6 und 7 erfordern ein wenig mehr Zärtlichkeit. Bruchsichere Eier sind noch nicht erfunden, und den Chips-Salat im Sackerl möchte ich auch umgehen. Oh weh! Ich wollte doch Plastik vermeiden. Das Chipssackerl und das Vanillejoghurt, der abgepackte Käse und die Cabanossi erscheinen plötzlich voluminöser als sie vermutlich sind. Es ist zu spät um umzukehren. Frau Einpackstation drängt. 

„Auf der Einpackstation befindet sich ein unerwarteter Artikel ...“ Klingt die Stimme plötzlich bestimmter? Oder bilde ich mir das ein? Ja, und was das Unerwartete sein soll, darauf wäre ich richtig gespannt.

Ich weiß zwar nicht, was dich im Moment irritiert, aber ich kann dich beruhigen, gib mir ein wenig Zeit und ich nehme alles mit. Führe ich gerade Selbstgespräche? Eine leibhaftige Verkäuferin wirft mir bereits Blicke zu. Aber ich hab heute keine Flasche Wein. Ich brauche ihre Hilfe nicht. Sie darf sich noch etwas schonen. Ein klein wenig Zeit nur. 
Meine Eile fällt mir in den Rücken. Ich fühle mich ertappt. 
Woher kommt bloß diese Unrast?
Niemand steht hinter mir und blickt auf die Uhr. 
Ist es die Stimme aus einem Gerät, die darauf pocht zu handeln und damit ihre Wirkung nicht verfehlt? Ist es ein Außen, das mein Innerstes in Regung versetzt? Oder ein Innen, welche der Stimme erst Bedeutung verleiht? Wie werde und bleibe ich mir ihrer Verbindung gewahr und verabsäume es nicht ihre Streitgespräche einzuleiten? Stopp jetzt. Einmal tief Durchatmen. Mein Atem ist meist ein verlässlicher Mediator. Ich wage einen Versuch. 

Ich atme.
Und stehe mit beiden Beinen bewusst am Boden. 

Mein Atem ist geborgt. Mein Atmen gehört in diesem Moment nur mir. Ich atme mit und ohne Masken.  Atmen ist mir nicht fremd. Nur manchmal ein sehr unbeachteter Teil meiner selbst. Ein guter Moment um zu atmen, bevor ich den Laden mit zwei großen Schritten verlasse.

Ich atme tief ein. Mein Brustkorb hebt sich. Ich spüre meine Rippenbögen. (Die Einpackgehilfin spricht weiter.)

Über meinen Mund lasse ich allen Atem leise strömen. Ich staune, wieviel Sauerstoff mein Körper fassen kann. Ein Raum eröffnet sich. In mir. Ich gebe alles wieder ab. (So was hab ich wirklich noch nie probiert.)

Ich wiederhole den Vorgang und schließe die Augen dabei. Ich bin unbeobachtet. (Wow, das ist jetzt wirklich mutig.)

Ich öffne die Augen. Ich muss lächeln. Ein Gedanke macht sich breit. Was wäre, wenn … Ich höre die Stimme der Selbstbedienungskasse, die plötzlich ganz anderes zu mir spricht:

„Wer weiß, wer ich bin? Ich wandle und wandle mich.“ (Rainer Maria Rilke) 

„(...) Es gibt dich, weil Augen dich wollen (...)“ (Hilde Domin)

„Siehe, schön bist du, meine Freundin, siehe, du bist schön.” (Hoheslied 4,1) 

oder: 

„Heute schon gelächelt?“ 

„Wohin setzen Sie ihren nächsten Schritt?“

„Ich wünsche Ihnen gutes Atmen heute.“

Mein Atmen. Meine Gedanken. Mein Tempo. Unbezahlbar. Sie gehören mir. Und sind doch Geschenk. Immer und überall.

Unaufdringlich aufdringlich. 
Störrisch. 
Getrieben. 
Ruhend. 
Verträumt. 
Verspielt. 
Wandelbar. 
Wirksam. 
Gedankenbändiger Atem. 

Supermarkt als Möglichkeitsraum die Imaginationskraft zu schulen? Ein Raum für spirituelle Momente? Warum eigentlich nicht? 
Atmung und Wandlung erlaubt. 


Barbara und ihre Zweige

Barbara und ihre Zweige

Bereit

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