Schreib du mir von deinem Wunder. Aber gern!
Es gibt so viele. Und natürlich ein ganz besonderes. An das ich gleich als erstes denke: Mein kleines großes Wunder. So nenne ich meine Tochter gern in Anlehnung an ein gleichnamiges Kinderbuch (von Emily Winfield Martin), das ich ihr gern zum Einschlafen vorlese.
Aber um ehrlich zu sein, will ich hier von anderen Wundern erzählen. Auch wenn es weh tut. Denn es gibt vieles, das mich wundert. Abgrundtief ins Herz hinein wundert. Meinen Verstand übersteigend wundert. Und weil es so tief rein und so oben drüber geht, nenn ich es: „mich wundern“, weil mir das mehr erscheint als „mich freuen“, „lieben“ aber auch mehr als „mich ärgern“, „frustriert sein“, „fassungslos sein“ … all das und noch so viele andere kaum ertragbare Emotionen.
Ich wundere mich, dass im Parlament gebetet wird. Und noch mehr wundere ich mich, dass von kirchlicher Seite kein Einspruch über diese staatliche Vereinnahmung der Religion kommt.
Ich wundere mich über den Bundeskanzler und dass er die Aufnahme von Menschen aus den Lagern in Griechenland verbietet. Und noch mehr wundere ich mich über Menschen, die dies gutheißen, schönreden, dulden. Über all jene, die nicht laut aufschreien, aufjaulen, weil ihnen diese Unmenschlichkeit im Herzen so unendlich weh tut.
Ich wundere mich über die Friedensnobelpreisträgerin Europa. Die Menschen zurück aufs offene Meer drängt, sie ertrinken lässt, in Lagern im Wald frieren lässt, in rattenverseuchten überfluteten Zelten bei winterlichen Temperaturen ohne Warmwasser dahinvegetieren lässt, die Polizisten an den Grenzen auf Menschen schlagen lässt. Ohne großes Medienecho. Noch mehr wundere ich mich über die Predigten, in denen dieses Leid nicht vorkommt. Herbergssuche? „Was ihr dem geringsten meiner Brüder tut…“? Nächstenliebe? Barmherziger Samariter? Habe ich das alles falsch verstanden?
Mich wundert, dass die Kirchengemeinden sich versammeln können, aber die Theaterfreunde nicht.
Mich wundert, dass die Einkaufszentren geöffnet und überfüllt sind, aber die Kunsthandwerksmärkte nicht.
Mich wundert, dass es Spendenaufrufe an Plakatständern und von privaten Initiativen für Flüchtlingshilfe, Obdachlose, Kinderkrebshilfe und vieles mehr gibt. Warum mich das wundert? Weil das vom Staat finanziert werden sollte. Mich wundert, dass es nicht stattdessen Plakate, die für Spenden zur Finanzierung von Autobahnen, Parteiwerbung oder Stadien werben, gibt.
Mich wundert, dass noch immer Straßen ohne Fahrradwege gebaut werden. Dass dem Auto alles untergeordnet wird und alles immer noch so gebaut und geplant wird, dass auch künftig das Auto das bevorzugte, weil praktischste Verkehrsmittel sein wird.
Mich wundert, wie wenig die Wähler*innen von rechten Verstrickungen in der Politik wissen wollen. Mich wundert, dass ein verurteilter Neonazi, dessen Namen im Umfeld der VAPO (militante neonazistische Gruppe), des Briefbombenattentates, des NSU-Prozesses und im Umfeld deutscher rechtsextremer Chatgruppen, die einen bewaffneten Umsturz planten („Hannibal-Affäre“), auftaucht, während seines Freiganges weiter Waffen für rechte Netzwerke organisieren kann. Auch wundert es mich, dass angesichts dieser Causa bei der Pressekonferenz reflexartig vor „Linksextremismus“ gewarnt wird.
Mich wundert, dass ein Polizeioberst, der rechtsextreme Seiten (also Seiten, die Wiederbetätigern, Holocaustleugnern, Verhetzern eine Plattform bieten) in sozialen Medien teilt, dass dieser Polizeioberst mit der Durchsuchung des Bundesamtes für Verfassungsschutz beauftragt wird, wo er spezielles Interesse für die laufenden Ermittlungen im rechtsextremen Umfeld zeigt.
Wunder übersteigen das Vorstellbare und doch sind sie da.
Und weil all das, angefangen beim kleinen großen Wunder unsagbare, unaussprechliche, unartikulierbare Emotionen auslöst, darum nenne ich es: „mich darüber wundern“.
Und jeden Tag aufs Neue werde ich ALLES was mich wundert - das Liebevolle und das Grauenvolle -benennen, sichtbar machen, hinausschreien in die Welt, damit es alle sehen. Alle wissende Zeitzeugen sind und immer mehr sich mit mir lautstark wundern.
PS.: Ich habe überlegt, ob ich hier ein Bild dazu gebe. Eines aus den Lagern? Eines von Maria und Josef auf Herbergssuche? Oder doch eines meiner Tochter, als Lichtblick und als Zeichen für das Gute, Unbeschwerte, Unschuldige in der Welt? Als versöhnlichen Abschluss sozusagen. Aber dieses „Wundern“ in und von mir hat mehr als zwei Dimensionen. Es ist unsagbar. Unabbildbar. Es geht so tief rein und so oben drüber. Wen es auch wundert, die/der wird es verstehen.
Isabella Unfried