Auf diesem Stein will ich meinen Garten bauen
Dorothee Sölle schreibt: „Ich habe seit vielen Tagen kein Gedicht geschrieben. Das führt zu einer Abwesenheit vom eigenen Leben (...)“ Ich fühle mich verstanden von dieser Frau, die „verrückt nach licht war“, die das Schöne auf dem Boden ihres Herzen anzupflanzen wusste und den halben Himmel auf ihrem Rücken schulterte. Auf der Suche nach dieser zweiten Hälfe, nach offenen Türen für alle, die danach suchten. Ja, diese Frau bewegt mich sehr. Auch deshalb, da sie wohl das Ringen kannte. Warum sollte sie es auch nicht kennen. Was wäre das für eine Vorstellung, ein Leben ohne das Ringen, ohne das Fragen und das Suchen führen zu wollen. Mir sind eher jene fraglich, die auf alles eine Antwort wissen. Ich vermute, es ist eine Kunst, selbst zur Frage zu werden und diese auf die Straßen hinauszutragen, damit die anderen sehen können: Du bist nicht allein. Es ist wohl auch eine Kunst, die eigene Fragwürdigkeit aushalten zu lernen. Mir erging es in den letzten Stunden, Tagen, Wochen eher so, dass ein zu viel der Fragen sich eingenistet hatte in meinen eigenen vier Wänden. Und in mir eine Sehnsucht nach Einfachheit, nach einer Klarheit im Antworten. Die Wände waren sehr hellhörig und dünnhäutig geworden. Wie der Nebel, den ich einmal als trübes Dickicht, einmal als Tor ins Zuckerwatteland betrachten konnte. Ich empfand dies als meine größte Freiheit. Doch dass der Nebel ohne meine Erlaubnis vordrang und meine Wände weichlich machte, das beschäftigte mich wohl sehr. Denn zeitgleich legten sich Teile dieser steinernen Mauer direkt auf meine Brust. Und richteten sich ein. Was für eine verkehrte Welt. Das Außen wird brüchig und weich und ich werde plötzlich zum Stein, oder besser zum Rastplatz für die Steine. Das Atmen ist damit reichlich schwer. Ich begann die Wohnung umzustellen. Tragende, schwere Dinge gegen die Mauer zu stellen, für klare Linien zu sorgen. Doch täglich hämmerten neue Bilder und Schreckgespenster ein. Mal gesellten sie sich zu den tanzenden Fischen am Fenster, mal besuchen sie mich bei Nacht. Ich wollte wirklich die Steine wegrollen, aber kurz vor der Schulter, rollten sie wieder zurück. Die Worte blieben verschreckt und fühlten sich überfordert. Zu müde. Erschöpft. Wovon eigentlich? Wo versteckt sich mein unerschütterliches Vertrauen?
Da sind so viele Bilder und Abbilder, die nahekommen und keine Körper mehr in Sicht. Keine Angriffsfläche. Kein Resonanzraum. Kein Du. Keine Bühnen, die stellvertretend für mich Lieben, Leiden, Lachen und mich erinnern: Das kannst du auch. Keine Kirchen, die stellvertretend für mich Singen und Beten, so wie ich nie glaubte, es zu können und die mich doch ermutigen: Finde dein Gebet.
Ich vermisse die Umarmung. Ich vermisse eine Hand. Ich will kein Herz aus Stein. Ich will berührbar bleiben. Ich wünsche mir ein Herz wie einen Garten. Mit viel Erde und einem kleinen Zaun rundherum. Wo man drüber klettern kann. Wo dennoch eine Tür ist, die ich verschließen kann, um die kleinen Pflänzchen zu schützen, wenn sie Ruhe brauchen und das Licht für sich allein. In meinem Garten gibt es eine Sonnenbank. Mein linker Platz ist frei. Einen Komposthaufen, wo Unbekömmliches abgelagert werden darf und Humus daraus erwächst. Ein Herz wie einen Garten, ja, das wünsche ich mir. Wo Erde ist und zur Erde wird, wo die Steine ihren sichtbaren Platz erhalten.
Heute habe ich mir einen Stein zur Brust genommen. Ein Sack voller Donausteine tauchte auf. Ich wollte die Steine schon wegwerfen. Aber wo wirft man Steine bloß hin? Ich müsste sie wohl zurückbringen an ihren vertrauten Platz, ganz nahe am Wasser. Ich hab sie doch behalten. Sie liegen auf dem brach liegenden Balkon-Garten. Einen Stein nahm ich in die Hand. Schwarz ist er und glänzend. Maserungen wie Milchstraßen in dunkler Nacht. Kleine Einschlüsse, Sand in den feinen Haarrissen. Keine Kanten. Glattgeschliffen vom Wasser, das niemals aufhört, sich zu bewegen. Eiskalt lag er in meinen warmen Händen. Dazwischen ein hauchdünner nebeliger Film. Ein Stein reagiert auf meine Wärme. Und ich reagiere auf einen Stein. Welch Ruhe, welch Klarheit da in meinen Händen lag. Ich habe den Stein abgelegt, vielleicht auch das ein oder andere Gefühl, eines der vielen Bilder, die sich schwerlich in Worte fassen lassen. Zwischen den Rissen und Sandkörnern kam für einen Moment zur Ruhe, was zuvor auf meiner Brust zu liegen kam. Wie heilsam, sich im Stimmen- und Bildergewirr, in Zeiten, in denen Vieles zu Herzen geht, man sich auf etwas ganz Schlichtes, etwas einfach zu Begreifendes fokussieren kann: Ein Summen, eine Seite Papier, eine Füllfeder zwischen den Fingern, getrocknete Blätter oder Donausteine in der Hand … Es hilft mir, mich zu sortieren, inmitten der Fülle eine Einfachheit zu finden, die nie beginnt sich vor der Komplexität zu verschließen, sondern gerade darin sich und die Umwelt auszuhalten und anzunehmen beginnt.